Ágota Kristóf – Wikipedia
Ágota Kristóf (* 30. Oktober 1935 in Csikvánd, Ungarn; † 27. Juli 2011 in Neuenburg[1]) war eine ungarisch-schweizerische Schriftstellerin. Ihre in einer minimalistischen und schonungslosen Sprache verfassten Werke, die sie nicht in ihrer Erstsprache Ungarisch, sondern in der als Erwachsene erlernten Zweitsprache Französisch schrieb, wurden bis im Jahr 2003 in 36[2] Sprachen übersetzt. Ihr Hauptwerk ist die Trilogie Le grand cahier / La preuve / Le troisième mensonge. Darin und in Hier (Gestern), behandelt sie aus einer männlichen Erzählerperspektive das Schreiben als Überlebenskampf, den Verlust eines Vertrauten, die Entfremdung im Exil und die Vermengung von Wahrheit und Lüge in ihrer Heimat Ungarn und in den Lebensläufen ihrer ungarischen Landsleute.
Leben
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Ágota Kristóf wuchs in den ungarischen Kleinstädten Kőszeg und Szombathely auf. Ihr Vater Kálmán Kristóf und ihre Mutter Antónia Kristóf, geborene Turchányi, waren beide Lehrer. Zwischen 1944 und 1954 besuchte sie die Schule in Szombathely und erlangte eine wissenschaftliche Matura. Sie begann im Alter von vierzehn Jahren, Gedichte zu schreiben. Diese Werke gingen bei der späteren Flucht verloren.[3]
1956, nach der Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstandes, floh sie zusammen mit ihrem Mann János Béri, der bis zu ihrer Matura ihr Geschichtslehrer gewesen war und mit dem sie seit 1954 verheiratet war, und mit ihrer viermonatigen Tochter in die Schweiz. Am 8. Dezember 1956[2] kam sie an der Schweizer Grenze an. Ursprünglich war eine Weiterreise in die USA geplant. Es gab keinen formellen Asylentscheid,[2] da alle Ungarn kollektiv aufgenommen wurden. Die Regierung zeigte politisch bedingt ein maximales Entgegenkommen und verlautbarte: „Der Bundesrat unterstellt die Aufnahme der [ungarischen] Flüchtlinge keinen Bedingungen. Um in das Kontingent aufgenommen zu werden, genügt der Wunsch, in die Schweiz zu kommen.“[2]
Kristóf fand Arbeit in einer Uhrenfabrik in Fontainemelon und erlernte die französische Sprache, in der sie ab etwa 1972 Jahren ihre Bücher und Hörspiele schrieb, nur sehr langsam. Auch Französisch als Schriftsprache beherrschte sie anfangs kaum.[3] Nach ihrer Emigration schrieb sie zunächst noch auf Ungarisch. Ihre Werke wurden zuerst in der in Paris verlegten Zeitschrift für ungarische Schriftsteller im Exil Magyar Irodalmi Újság (zu Deutsch in etwa Ungarische Literaturbesprechung) veröffentlicht.[3] Nach fünf Jahren im Exil verliess sie ihren ersten Mann, gab ihre Arbeit in der Uhrenfabrik auf und besuchte Vorlesungen an der Universität Neuenburg, wo sie 1963 ein Diplom des Séminaire de français moderne erwarb. Im selben Jahr heiratete sie den Fotografen Jean-Pierre Baillod.[4] Ihrem ersten Mann nahm sie es übel, dass er und nicht sie die Möglichkeit eines richtigen Universitätsstudiums nutzen konnte.[2]
Über ihre Motivation und Arbeitsweise als Schriftstellerin sagte Ágota Kristóf:
- „Als wir 1956 in der Schweiz ankamen, wollte ich vom Leben der Flüchtlinge sprechen, von meinen Landsleuten, vom Leid der Ungarn im Exil, von den Selbstmorden, von der Arbeit in der Fabrik. All das, was ich erlebt habe, im Grunde. [...] Abends schreibe ich wie es kommt, von Hand, ohne mir wegen der Rechtschreibung Gedanken zu machen, ohne mir zu überlegen, wie es enden soll. Ich denke an Geschichten, an Dialoge die ich auf mein Heft schmeisse. Und dann, wenn die Unordnung darin zu gross geworden ist, setzte ich mich vor meine Schreibmaschine und mache Ordnung.“[2]
Ágota Kristóf bezeichnete ihr Schreiben als „eine Revanche für mein trauriges Leben als Hausfrau und Arbeiterin.“[2] Sie hatte die Tochter erzogen, sich sprachlich völlig integriert und das Geld verdient, als ihr erster Mann ein Stipendium bezog. Kristóf lebte bis zu ihrem Tod in Neuenburg. Ihr Werk wurde nun im Schulunterricht besprochen. Im Umgang mit der sehr interessierten Öffentlichkeit war sie stets zurückhaltend. Unter den wenigen Interviews, ist das Gespräch mit Philippe Savary für die Zeitschrift Le matricule des anges[2] im Jahr 1995 besonders aufschlussreich. 2000 erschien die Biografie Ágota Kristóf. Von einem Exil ins andere von Valérie Petitpierre. Für ihre Heimat widerwillen, die Stadt Neuenburg, hatte sie, wie sie 2002 der Zeitschrift der Universität Neuenburg eingestand, „ein sehr starkes Zugehörigkeitsgefühl“. Ihre sterblichen Überreste wurden nach Ungarn überführt. Ihr Nachlass befindet sich im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern.
Auszeichnungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- 1987: Prix littéraire européen de l’ADELF für Le grand cahier
- 1988: Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung
- 1988: Ruban de la Francophonie
- 1992: Prix du Livre Inter für Le troisième mensonge
- 1998: Alberto-Moravia-Preis
- 2001: Gottfried-Keller-Preis[5]
- 2005: Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung für das Gesamtwerk
- 2006: Preis der SWR-Bestenliste
- 2008: Österreichischer Staatspreis für Europäische Literatur
- 2011: Kossuth-Preis
Werke (Auswahl)
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Prosa
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Le grand cahier Le Seuil, Paris 1986
- Das große Heft, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Rotbuch Verlag, Berlin 1987; 2005/06 in die Reihe Schweizer Bibliothek aufgenommen.
- La preuve Le Seuil, Paris 1988
- Der Beweis, aus dem Französischen von Erika Tophoven-Schöningh. Piper, München/Berlin 1988
- Le troisième mensonge Le Seuil, Paris 1991
- Die dritte Lüge, aus dem Französischen von Erika Tophoven. Piper, München/Berlin 1993
- Hier Le Seuil, Paris 1995
- Gestern, aus dem Französischen von Carina von Enzenberg und Hartmut Zahn. Piper, München/Berlin 1996
- L’analphabète. Récit autobiographique Zoé, Genf 2004
- Die Analphabetin. Autobiographische Erzählung Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Ammann, Zürich 2005
- Où es-tu Mathias? Zoé, Carouge 2005, ISBN 2-88182-548-6 (Minizoé 64)
- C’est égal Editions du Seuil, Paris 2005
- Irgendwo. Nouvelles Aus dem Französischen von Carina von Enzenberg. Piper, München 2007, ISBN 978-3-492-04871-2
Hörspiele
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Das große Heft in einer Bearbeitung von Garleff Zacharias-Langhans. Regie: Heinz Hostnig. Produktion: BR/SWF, 1989, ISBN 3-89584-871-9
- Die Epidemie. Regie: Wolfgang Rindfleisch. Produktion: HR, 1996.
- Das große Heft in einer Bearbeitung und in der Regie von Erik Altorfer, Komposition: Martin Schütz, Produktion: DLF Kultur/HR/SRF, 2021
Theaterstücke
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- L’heure grise et autres pièces, 1998
- John und Joe
- Lucas, Ich und Mich
- Monstrum. Stücke (John und Joe; Der Schlüssel zum Fahrstuhl; Eine Ratte huscht vorbei; Die graue Stunde; Monstrum; Die Straße; Die Epidemie; Die Sühne). Aus dem Französischen von Jacob Arjouni, Carina von Enzenberg, Ursula Grützmacher-Tabori, Eva Moldenhauer, Erika Tophoven. Piper, München/Berlin 2010
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Verena Auffermann: Agota Kristof – Die Wörterbuchleserin. In: Verena Auffermann, Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter (Hrsg.): Leidenschaften. 99 Autorinnen der Weltliteratur. C. Bertelsmann, München 2009, ISBN 978-3-570-01048-8, S. 281–285
- Michele Sandrine Bacholle: Representing the double bind: Doubleness and schizophrenia in the works of Annie Ernaux, Agota Kristof, and Farida Belghoul. University of Connecticut 1998 (Dissertation)
- Dorothee Röseberg: Agota Kristof. Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur (KLfG). Edition text und kritik, München (fortlaufend; online über Munzinger-Archiv)
- Erica Pedretti: Chère Agota. In: Quarto. Revue des Archives littéraires suisses, 27, Februar 2009, S. 75–77
- Ulrich Seidler: Nach der Kindheit kamen die schlechten Jahre. Der ungarischen Schriftstellerin Agota Kristof zum 70., Berliner Zeitung, 29. Oktober 2005
- Cyril Tissot: Agota Kristof. In: Andreas Kotte (Hrsg.): Theaterlexikon der Schweiz – Dictionnaire du théâtre en Suisse. Band 2, Chronos, Zürich 2005, ISBN 3-0340-0715-9, S. 1037. (französisch)
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Publikationen von und über Ágota Kristóf im Katalog Helveticat der Schweizerischen Nationalbibliothek
- Literatur von und über Ágota Kristóf im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Archiv Ágota Kristóf in der Datenbank HelveticArchives bzw. als Online-Inventar (EAD) des Schweizerischen Literaturarchivs
- Ágota Kristóf bei IMDb
- Roger Francillon: Ágota Kristóf. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 28. Juli 2011.
- Eintrag über Ágota Kristóf im Lexikon des Vereins Autorinnen und Autoren der Schweiz
- Kurzbiografie und Rezensionen zu Werken von Ágota Kristóf bei Perlentaucher
- Rezension zu «Die Analphabetin» ( vom 13. Dezember 2007 im Internet Archive), bei Deutsche Welle
- Ágota Kristóf auf «Le Culturactif suisse» (französisch)
- Ágota Kristóf. Biografie und Bibliografie auf Viceversa Literatur
- Lesestoff zu ihren Werken
- Porträt: „Ich finde das Glück meiner Kindheit im Alter wieder“."
- Beitrag über Agota Kristof im Literaturmagazin, SRF vom 12. November 1989
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Agota Kristof gestorben. NZZ Online, 27. Juli 2011
- ↑ a b c d e f g h Isabelle Schenker: Agota Kristof. Mit einer Einleitung von Peter von Matt. In: Prominente Flüchtlinge in der Schweiz / L’Exil en Suisse de réfugiés célèbres / Rifugiati illustri nell’esilio svizzero. Bundesamt für Flüchtlinge, Bern 2003, ISBN 3-9522901-0-6, S. 352–372, hier S. 352–356, 359, 366 f.
- ↑ a b c I did not want to name anything – An interview with Agota Kristof, Artikel vom 13. Oktober 2006 auf hlo.hu (engl.)
- ↑ Roger Francillon: Ágota Kristóf. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 28. Juli 2011, abgerufen am 3. Februar 2019.
- ↑ Karl Stoppel, In: Agota Kristof: Hier. In: Karl Stoppel (Hrsg.): Universal-Bibliothek Fremdsprachentexte. Nr. 9096. Reclam-Verlag, Stuttgart 2002, ISBN 3-15-009096-2, S. 133–139.
Personendaten | |
---|---|
NAME | Kristóf, Ágota |
ALTERNATIVNAMEN | Kristof, Agota |
KURZBESCHREIBUNG | ungarisch-schweizerische Schriftstellerin |
GEBURTSDATUM | 30. Oktober 1935 |
GEBURTSORT | Csikvánd, Ungarn |
STERBEDATUM | 27. Juli 2011 |
STERBEORT | Neuenburg |