Alleingang (Schweiz) – Wikipedia

Als Alleingang wird in der Schweizer Politik im innenpolitischen Diskurs eine Strategie bezeichnet, die institutionelle Verflechtung mit der Europäischen Union im Speziellen mit andern Regionen der Welt im Allgemeinen auf geringem Niveau zu halten. Der Begriff hat keine offizielle oder verfassungsrechtliche Grundlage, wird aber dennoch in der nationalen Aussen- und Innenpolitik seit Jahrzehnten als politisches Schlagwort benützt.

Befürworter dieses politischen Konzepts weisen unter anderem darauf hin, dass sich die Schweiz seit 1648 offiziell dazu bekannt habe, während politischer Krisen zwischen den europäischen Mächten eine neutrale Haltung einzunehmen, was im Wiener Kongress eine internationale vertragliche Grundlage erhielt. Ebenfalls ist darin geregelt, dass die Schweiz relativ wenig in die verheerenden Auseinandersetzungen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs verwickelt worden sei.

Gegner kritisieren den Begriff als unscharf und Teil einer nationalistischen und realitätsfremden Ideologie.

Zur Entstehungs- und Begriffsgeschichte

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als politische Strömung formte sich das Gedankengut um den Alleingang ab 1977 und ist von der korrelierenden Neutralität der Schweiz differenziert zu betrachten. Beginnend mit Abgas- und Lärmvorschriften im Jahre 1977 nutze der Bundesrat den Begriff Alleingang, um zu verdeutlichen, dass Vorschriften möglichst in Übereinstimmung mit den internationalen Normen verschärft werden sollen.[1] Der Begriff gewann im Zuge der Abstimmung zum Beitritt der Schweiz zum EWR an Popularität.[2] Die Schweizerische Nationalbank prüfte die Auswirkungen des EG-Binnenmarkts auf den Schweizer Finanzplatz und folgerte:

Die vertragliche Integration der Schweiz im Rahmen eines EWR brächte neben den Vorteilen der Teilhabe am grossen Europäischen Binnenmarkt neue Herausforderungen für die Schweiz mit sich. Sie müssten in einzelnen Sachgebieten eine vergleichsweise weniger weit gehende Gesetzgebung mittragen und im institutionellen Bereich auf eine umfassende demokratische Legitimierung der Rechtssetzungsprozesse verzichten.[3] Auch ist mit einer konstanten Mitwirkung im zu schaffenden EWR-Gerichtshof nicht zu rechnen.[4][5]

Die oben genannte Schlussfolgerung führt die Attribute des Diskurses über den Alleingang auf, welcher medial intensiv debattiert wurde.

Ideen des Alleingangs

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Begriff Alleingang hat folgende Grundpositionen:

  1. Neutralität der Schweiz ist bewährt
  2. Institutionelle und Wirtschaftliche Zusammenarbeit können nicht auseinandergehalten werden ("Selbstbestimmungsinitiative")
  3. Einschränkung von Souveränität und Demokratie
  4. EU-Skepsis
  5. Patriotismus[6]
  6. Dringlichkeit und Notwendigkeit der Verhandlungen nicht gegeben

Christoph Blocher beschrieb den Alleingang wie folgt:

„[...]Seit dem Fall der Mauer hat sich - in einer naiven Friedens- und Harmonieeuphorie - vor allem in der Schweiz der Angriff auf die Unabhängigkeit verstärkt. Nicht nur wurde das Wort Selbstständigkeit zunehmend durch den Begriff "Alleingang" ersetzt und zugleich entstellt, auch witterten die Anhänger der Lehre vom Ende des Nationalstaates und des Machtgleichgewichts als Friedensvoraussetzung mehr und mehr Morgenluft. Ihre Gedanken führen in den 90er Jahren in ein wenig selbstbewusstes und den Lasten der Verantwortung eher abholdes politisches Milieu. Daraus erfolgte ein fast zwanghaftes Streben nach Internationalität, wovon insbesondere die Bundesverwaltung erfasst wurde. Obschon jeder wüsste: Aktivität allein bringt uns nicht weiter. Man ist geneigt mit Mathias Claudius zu sagen: ".sie spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste und kommen weiter von dem Ziel." [...].[7]

Bei der Diskussion zur Begrenzungs-Initiative beleuchtete Marianne Streiff-Feller, EVP Schweiz Nationalrat den Alleingang wie folgt:

„[...] Ich erlaube mir, zum Schluss noch von Werten zu sprechen. Ein Schweizer Alleingang - die Kündigung der Verträge mit unseren Nachbarn - wäre meines Erachtens im Kontext der weltweiten verstärkt protektionistischen Tendenzen verantwortungslos, verantwortungslos gegenüber unseren Nachbarn, aber vor allem verantwortungslos gegenüber allen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes [...].[8]

Allerdings distanzieren sich auch rechte Parteien von gewissen Formen von Alleingängen, zum Beispiel lehnt die SVP in ihrem Parteiprogramm einen Alleingang der Schweiz bei umwelt- und klimapolitischen Zielen wie die Halbierung der CO2-Emission bis 2030 und deren Umsetzung ohne international verbindliche Beschlüsse aller Staaten entschieden ab.[9]

Der «bilaterale Weg» im Verhältnis zur EU und andere politische Beziehungen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als Alternative zum EWR-Beitritt empfahlen die Gegner der Vorlage im Abstimmungskampf den «Alleingang» des Landes und das Modell des «bilateralen Weges» für die künftige Zusammenarbeit mit der EU. Die möglichen negativen Folgen des Nichtbeitritts suchte die Landesregierung seither in Verhandlungen mit der EU zu mildern, die zu zwei umfassenden Vertragspaketen führten (siehe dazu: Bilaterale Verträge zwischen der Schweiz und der EU) Gegen diese Vertragspakete wurde das Referendum wiederum von jenen politischen Kreisen ergriffen, die auch schon den Beitritt zum EWR bekämpft hatten. Auch jetzt wurde der «Alleingang» als besserer politischer Weg gepriesen.

Mit dem schrittweisen Inkrafttreten der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU wurde zwar der Druck, der auf der Schweiz lastete, sich stärker in die europäische Landschaft zu integrieren, verringert; mit der Zeit zeigte es sich jedoch, dass ein wirklicher «Alleingang» für ein Land wie die Schweiz in einer politisch wie wirtschaftlich zunehmend verfochtenen und «globalisierten» Welt eine Illusion wäre. Dies äusserte sich zum Beispiel in strukturellen Reformen der Schweizer Armee, die heute mehr oder weniger NATO-kompatibel ist (obwohl die Schweiz nicht Mitglied dieser Organisation ist), und etwa auch darin, dass seit dem EWR-Nein die weiteren europapolitischen Volksabstimmungen in der Schweiz – mit Ausnahme der Initiative «Ja zu Europa», die 2001 die sofortige Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU gefordert hatte – von den proeuropäischen Kräften gewonnen wurden, so u. a. die Referenden zu den bilateralen Verträgen, die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit (Teil der bilateralen Verträge I) auf die neuen EU-Mitgliedstaaten und der Beitritt zum Vertragswerk Schengen/Dublin, und dann auch bei diplomatischen Verhandlungen der Schweiz mit andern Staaten sowie internationalen Organisationen.

Auch der Beitritt der Schweiz zu den Vereinten Nationen 2001, den zu verhindern ebenfalls mit einem Referendum versucht worden war, kann man als Zeichen dafür ansehen, dass sowohl die Mehrheit der politischen Parteien wie auch das Wahlvolk einen strikten «Alleingang der Schweiz» nicht für wünschenswert hielten.

Verfechter des politischen «Alleingangs»

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Politisch profilierte sich beim Nein zum EWR die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP), die seither von der «viertstärksten» zur «wählerstärksten» Partei der Schweiz aufstieg. Sie war die einzige der Bundesratsparteien (Parteien, die mindestens einen der sieben Bundesräte (Minister) stellen), die sich gegen einen EWR-Beitritt (und somit gegen ihren eigenen damaligen Bundesrat) stellte.

Die SVP bildet damals wie heute das Rückgrat der alternativen schweizerischen Politkräfte. Christoph Blocher, damals Präsident der SVP-Kantonalsektion Zürich, brillierte bei der EWR-Ablehnung. Seine Wahl zum Bundesrat 2003 sowie seine Abwahl 2007 können als eine der stärksten politischen Kräfteverschiebungen seit Jahrzehnten angesehen werden. Blocher stieg durch die EWR-Abstimmung zum Politstar empor. Als «starker Mann» seiner Partei nahm er massgeblichen Einfluss auf den sich verschärfenden, isolierten, direktdemokratischen und rechtskonservativen Kurs der SVP (auch in den vormals eher als gemässigt geltenden Kantonalsektionen Bern und Graubünden). Die Kampagne gegen den EWR-Beitritt machte Blocher zum Politparadepferd der Schweiz. Der Begriff «Alleingang» verbindet sich sowohl mit einem Zeitabschnitt der SVP als auch mit der politischen Laufbahn Christoph Blochers (er ergriff beispielsweise Jahre zuvor das Referendum gegen die Einführung der Sommerzeit in der Schweiz). Während die SVP die grosse Masse der Isolationisten darstellt, ist die Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS) deren Speerspitze. Die AUNS verfolgt das Ziel, mit Initiativen, Referenden und Abstimmungskampagnen jegliche Auslandannäherungen, seien sie auch noch so unbedeutend, zu verhindern. Langjähriger Präsident war, bis zu seiner Wahl zum Bundesrat, Christoph Blocher.

Gegner des politischen «Alleingangs»

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Nein zum EWR-Beitritt führte zu einer temporären Entfremdung des deutschsprachigen und des französischsprachigen Landesteils. Da die französischsprachigen Stände anders als die deutschsprachige Mehrheit für einen EWR-Beitritt stimmten, wurde einmal mehr der Begriff des «Röstigraben» als Ausdruck für einen markanten Unterschied im Abstimmungsverhalten zwischen deutsch- und französischsprachiger Schweiz hochgespielt. In den allermeisten der späteren Abstimmungen stellte man das Fehlen eines «Röstigrabens» fest, was für den inneren Zusammenhalt der Schweiz spricht und den Begriff als das entlarvt, was er von Anfang an war: eine Schlagzeile und nicht eine analytisch brauchbare Grösse. Tatsache ist aber, dass die traditionell aufgeschlossenere, EU-freundlichere Romandie (französischsprachige Schweiz) sich der Mehrheit anpasste (was wohl auch mit dem Vordringen der Schweizerischen Volkspartei (SVP) mittels Gründung von Orts- und Kantonalsektionen in die Region zu tun hat).

Die einzige Bundesratspartei, die sich immer noch vorbehaltlos für einen Beitritt der Schweiz zur EU ausspricht, ist die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP), wobei sich allerdings auch einige der National- und Ständeräte der SP kritisch zu einem Beitritt äusserten.[10]

Die politische Mitte, die aus Christlichdemokratischer Volkspartei (CVP) und FDP.Die Liberalen (FDP) besteht, tendiert heute stark zum bilateralen Weg. Besonders die FDP hat damit einen Kurswechsel von EU-freundlich zu EU-kritisch vollzogen.

Speerspitze der EU-Befürworter in der Schweiz ist heute die aus Fusionen verschiedener Gruppierungen hervorgegangene Neue Europäische Bewegung Schweiz (NEBS).

Der «Alleingang der Schweiz», verstanden als eine Nichteinmischung in politische Auseinandersetzungen zwischen anderen Staaten, hat sich im Nachhinein als nützliche Strategie erwiesen. Andererseits führte eine solche Politik der Abwehr institutioneller Zusammenarbeit spätestens mit dem Ende des Kalten Krieges und der Gründung der EU in eine Sackgasse.

Mit der Politik des bilateralen Weges suchte die Schweiz eine tragfähige Grundlage für die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit der EU zu schaffen. Es geht in der politischen Diskussion etwa um Vorteile wie eine eigenständige Geldpolitik durch die Schweizerische Nationalbank, die innenpolitische und juristische Entscheidungsfreiheit und Fragen des Arbeitsrechts.

Im Zusammenhang mit dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU durch den Brexit zum 1. Januar 2021 wurde in der Schweiz erneut über die Position des Landes gegenüber der EU debattiert.

  • Boris Lazar: Freiheit, Verantwortung und EU-Beitritt der Schweiz. Rede anlässlich des «Head of Missions Lunch Meeting» durch den Botschafter der Tschechischen Republik, am 16. März 2009 im Kursaal Bern. In: Nicolas G. Hayek, Josef F. Kümin (Redaktion): Schriftenreihe Freiheit & Verantwortung. Band 4, Gesellschaft und Kirche Wohin? Mitgliederbrief Nr. 233, Lachen SZ / Stiftung Freiheit & Verantwortung, Kriens LU 2009.

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Der Bund, Band 128, Nummer 116, 20. Mai 1977
  2. Der Bund, Band 143, Nummer 207, 4. September 1992
  3. Thürer, Daniel, 1990, Auf dem Wege zu einem Europäischen Wirtschaftsraum? Schweizerische Juristenzeitung 6, S. 97
  4. Spinner, Bruno, 1991, Europäischer Wirtschaftsraum (EWR) Verhandlungsentwicklung bis Mitte Juni 1991, Schweizerische Juristenzeitung 14, S. 241
  5. Christine Breining-Kaufmann, Simon Grand, Martin Maurer, 1991, Die Annäherung der Schweiz an die EG - Auswirkungen auf die Schweiz
  6. Rede von Christoph Bocher 18. Oktober 2006. In: ejpd.admin.ch. 18. Oktober 2006, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 12. April 2021; abgerufen am 14. April 2021.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.ejpd.admin.ch
  7. Rede von Christoph Bocher 15. März 2005. In: ejpd.admin.ch. 15. März 2005, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 11. April 2021; abgerufen am 14. April 2021.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.ejpd.admin.ch
  8. Rede von Streiff-Feller Marianne. In: parlament.ch. 16. September 2019, abgerufen am 14. April 2021.
  9. Unser Parteiprogramm 2019-2023. In: svp.ch. Abgerufen am 14. April 2021.
  10. SP-Politiker kehren EU den Rücken. In: Tages-Anzeiger. 3. Juli 2011