Dieter Roth – Wikipedia

Dieter Roth fotografiert von Lothar Wolleh

Karl-Dietrich Roth (* 21. April 1930 in Hannover; † 5. Juni 1998 in Basel) war ein Schweizer Dichter, Aktions- und Objektkünstler. Er gilt als Vertreter der Konkreten Poesie. Er signierte auch als Dieter Roth, Diter Rot oder mit frei erfundenen Namen.

„… freuen Sie sich doch, dass Ihnen die Sonne immer noch scheint.“ von Dieter Roth an einer Hauswand in Basel

Seine Lebensgeschichte führte den 1930 in Hannover geborenen Auslandschweizer aus dem nationalsozialistischen Deutschland zunächst nach Zürich und später nach Bern. Dort ging er von 1947 bis 1951 bei dem Graphiker Friedrich Wüthrich in die Lehre. 1955 entwarf er in Kopenhagen Muster für Textilien, dann folgten Stationen in Island, Amerika und Deutschland. Von da an pendelte Roth zeit seines Lebens zwischen Island, wo er zusammen mit dem isländischen Poeten Einar Bragi den Verlag Forlag Editions gründete, der einige Werke Roths veröffentlichte, sowie Deutschland und der Schweiz. 1958 begab er sich mit einem Oneway-Ticket auf eine vage Stellenzusage hin in die USA nach Philadelphia an die School of Art. Als er die erhoffte Stelle nicht erhielt, versuchte er, in New York City Fuß zu fassen. Aus der finanziellen Not half ihm der Schweizer Herbert Matter, der sich für die damaligen konstruktivistischen Arbeiten Roths interessierte und ihm einen Lehrauftrag an der Yale University vermittelte, sowie später eine Stelle in der Reklameabteilung der Geigy-Versuchslaboratorien in Yonkers bei New York. Während er aus Frustration über seine Situation häufig seinen Lohn vertrank, sparte sich Roth mühsam Geld für einen Rückflug nach Island zusammen. 1967 lernte er Dorothy Iannone kennen, die seine Lebensgefährtin wurde, und für die er die Rolle einer „männlichen Muse“ übernahm. Für Iannone schrieb Roth zahlreiche Gedichte und sie malte ihn vielfach u. a. in den künstlerischen Verarbeitungen des gemeinsamen Alltags (Werkreihe Dialogues, 1968/69).

Bei späteren Aufenthalten in New York lernte er die Fluxus-Künstler kennen, komponierte mit ihnen, kritisierte aber ihre Moral: „Ich glaube eben nicht daran, dass die Askese irgendjemanden gut tut, außer dass sie einen Triumph darstellt, derer, die sie üben“. In den 1960er Jahren forcierte er seine künstlerische Produktion, er schuf zuweilen 100 Bilder am Tag. Mit „Literaturwürsten“ und „Schimmelbildern“ brach er von den zwei Dimensionen der Graphik in die Räumlichkeit auf.

Richard Hamilton wurde durch die Literaturwürste auf Roth aufmerksam und schlug ihn für den Copley-Preis vor. Mit Hamilton begann so eine jahrelange Freundschaft, in deren Verlauf gemeinsame Bilder und Interviews entstanden. Die Zusammenarbeit war für Hamilton eine Qual, da Roth viel schneller arbeitete und Hamiltons Anspruch an das fertige Werk höher war: „… wenn er vorsichtig irgendwo angefangen hatte, sagte ich: Das ist schon fertig, das ist gut“.

Während der 1960er-Jahre nahm Roth an Happenings und Fluxusveranstaltungen teil. Er schuf Kunstobjekte aus organischem Material, die einem Prozess der allmählichen Veränderung und des Zerfalls unterlagen, unter anderem luftdicht abgeschlossene Gewürz-, Schimmel- und z. B. Schokolade-Objekte, die von Kakaomotten zerfressen wurden. Zusammen mit Daniel Spoerri und André Thomkins fertigte er Werke der Eat-Art an. In den 1970er Jahren gestaltete er inhaltlich und grafisch eine Vielzahl von Buchobjekten, die dem dadaistischen Werk Kurt Schwitters’ nahestehen.

2006 erschien nach einem Konzept des Künstlers und Musikers Wolfgang Müller in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk eine Kompilation, auf welcher Interpreten wie Mouse on Mars, Andreas Dorau oder Stereo Total Texte von Roth vertonen. 2013 wurde sein Theaterstück Murmel Murmel von 1974 an der Volksbühne Berlin unter der Regie von Herbert Fritsch uraufgeführt. Auf 176 Druckseiten besteht es einzig aus der dauerhaften Wiederholung des Wortes Murmel. 2014 veröffentlichte das Labels Psych.KG die Langspielplatte Nvr Ainfache Eraignise, auf der Kommissar Hjuler einen Lebenslauf Dieter Roths in dessen Schreibstil bzw. Diktion als Cut-up-Lesung präsentiert.

Roth war zweimal Documenta-Teilnehmer: 1968 auf der 4. documenta und 1977 auf der Documenta 6. Zudem wurde er 2002 postum auf der Documenta 11 ausgestellt. 1982 gestaltete er den Pavillon der Schweiz auf der Biennale in Venedig.

Hauptwerke (Auswahl)

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  • Gartenskulptur (1968, Berlin)[1]
  • 6 Piccadillies (1969–1970)[2]
  • Karnickelköttelkarnickel (1969/1975, Hasenmist und Stroh, 18 × 19 cm, Dieter Roth Foundation, Hamburg)[3]
  • Tischruine (1970–1998, Rauminstallation aus Texten, Kunst, Schrott und Abfall), Abbildung der Installation auf der documenta 2007[4]
  • Strandkasernen (1983–1987, Objektcollage gefertigt aus Roths „täglich stattfindendem Gelebe“ mit Malutensilien, Holstücken, Lebensmitteln, Karton, Draht, Schnur, Öl, Lack, Acrylfarbe, Wasserfarbe und Leim auf Holz, 176,5 × 247 × 26,5 cm), Ausstellungsort: Das Städel Museum – Kunstmuseum Frankfurt[5]
  • Solo Szenen (1997/98, Berlin – Installation mit 128 Monitoren und 131 Videobändern)[6]
  • Skulptur mit Schokoladenhasen, Fett, Schokolade, Kunststoff.[7]

Gesammelte Interviews

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die 2002 posthum erschienenen gesammelten Interviews vermitteln den Eindruck, dass Roth das Interview als eine eigene Kunstform auffasste, der er einen hohen Stellenwert einräumte. Zu seinen Lebzeiten beauftragte er Barbara Wien mit der Recherche nach Tonbandaufzeichnungen und der Herausgabe aller Gespräche, die er mit Künstlern, Freunden und Journalisten geführt hatte. Er bestand darauf, möglichst nichts zu streichen, damit der „Unsinn“ nicht verloren gehe. Dieser „Unsinn“ umfasst die journalistisch nicht verwertbaren Aufnahmen und Nebenbedingungen, zum Beispiel das „deutsch eingefärbte“ Schweizerdeutsch, das Roth kurz vor seinem Tode in einem dreizehnstündigen Interview mit Patrik Frey spricht, sowie Unterbrechungen durch stockende Tonbänder oder Kabelsalat. Er stellt sich in den 36 Interviews als vom Ehrgeiz zerfressener Mensch dar, der sich beständig an Vorbildern abarbeitet, die er als Gegner empfindet. Früh habe er die Vorteile des Scheiterns an den eigenen Ansprüchen erkannt: „Weil ich mich gemerkt habe: ich kann diese Sicherheit nicht erwerben. Die Sicherheit sich zu erhalten ist viel schwieriger als in der Unsicherheit zu leben.“

Roth nutzt Interviews als „Unterhaltungsmusik“, bei der er Material aus Leben und Werk vorträgt. Mit Dieter Schwarz, der sich in seiner Dissertation mit dem literarischen Werk Roths beschäftigt hat, führt der Künstler ein Fortsetzungsinterview, von dem elf Teile im „Tell“ erschienen. Das umfangreichste Interview des Bandes führte die Journalistin Irmelin Lebeer-Hossmann an mehreren Tagen 1976 und 1979 mit dem Künstler über sein bis dato entstandenes Werk. Roth betont ihr gegenüber, dass seine Malerei der Finanzierung von Büchern diene. Sie sei nicht so wichtig, wie die „Schriftstellerei … oder sagen wir mal: das Nachdenken. Und das Sätzebilden.“ Roth führte zwei bis drei Tagebücher parallel. Aus ihnen schöpfte er Ideen zum Beispiel für die „Scheiße-Gedichte“, die er in elf Büchern veröffentlichte, oder für die „Bastelnovellen“. In ihnen ist die Typographie der eigentliche Held. Roth spricht von Wörtern als „billigen Bildern“ und gibt zu erkennen, dass er keine neue Wortkunst im Sinn hat.

  • Ideogramme, 1959
  • Mundunculum, 1967
  • die blaue flut, 1967
  • 246 little clouds
  • Zeitschrift für alles (10 Ausgaben Nr 1-Nr 10B, 1975–1987)
  • Dieter Roth in America, London 2004
  • Dieter Roth in Greenland, Amsterdam 2005
  • Gesammelte Werke in 20 Bänden (1971–79, Edition – später auf 40 Bände erweitert)

Ausstellungen (Auswahl)

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelausstellungen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gruppenausstellungen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Werke in Sammlungen (Auswahl)

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur/Kataloge

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  • C. E. Shannon, John McCarthy (Hrsg.): Studien zur Theorie der Automaten (Automata Studies). Mit Zeichnungen von Dieter Roth. Rogner und Bernhard, München 1974
  • Daniel Spoerri: Anekdoten zu einer Topographie des Zufall. Nautilus, Hamburg 1998.
  • Barbara Wien, Tomas Schmit: Gesammelte Interviews. Edition Hansjörg Mayer, London/Berlin 2002.
  • Ralf Beil: Künstlerküche: Lebensmittel als Kunstmaterial von Schiele bis Jason Rhoades. DuMont, Köln 2002.
  • Kees Broos: Dieter Roth. Catalogue à l’occasion de l’exposition „Dieter Roth“, du 16 mai au 26 juin 1987 au Centre Régional d’Art Contemporain Midi-Pyrénes. Éditions Arpap.
  • Ina Conzen (Kurator): Dieter Roth – Die Haut der Welt. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2000.
  • Dirk Dobke: Dieter Roth 1960–1975. Bd. 1: Melancholischer Nippes ergänzt und kommentiert von Dieter Roth. Bd. 2: Werkverzeichnis der frühen Objekte und Materialbilder 1960–1975 ergänzt und kommentiert von Dieter Roth. Verlag der Buchhandlung Walther, Köln 2002.
  • Dirk Dobke (Bearbeiter): Dieter Roth. Originale. Mit einer Einführung von Laszlo Glozer. Hamburg und London 2002 (mit CD-ROM).
  • Johannes Gachnang (Kurator): Dieter Roth – Die Bibliothek. Bundesamt für Kultur, Bern 2003.
  • Beat Keusch, Johannes Ullmaier, Björn Roth: Da drinnen vor dem Auge. Lyrik und Prosa, hrsg. von Jan Voss. Frankfurt 2005.
  • Harald Lemke: Die Kunst des Essens: eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks. Transcript, Bielefeld 2007.
  • Benjamin Meyer-Krahmer: Dieter Roth – Selbstbeobachtung als künstlerischer Schaffensprozess. Silke Schreiber Verlag, München 2007.
  • Matthias Oberli: Roth, Dieter. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
  • Flurina und Gianni Paravicini-Tönz (Hrsg.): Dieter Roth: Ur-Tränenmeer. Edizioni Periferia, Luzern 2010.
  • Peter Prange: Roth, Dieter. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 22, Duncker & Humblot, Berlin 2005, ISBN 3-428-11203-2, S. 110–112 (Digitalisat).
  • Nils Röller: Ahabs Steuer. Navigationen zwischen Kunst und Naturwissenschaft. Merve, Berlin 2004.
  • Felicitas Thun (Kurator): Dieter Roth – Gedrucktes Gepresstes, Gebundenes 1949–1979. Gleichnamige Ausstellung Graphische Sammlung Albertina Wien, 7. Mai bis 7. Juli 1998. Oktagon, Köln 1998.
  • Theodora Vischer und Bernadette Walter (Kuratoren): Roth-Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive. Texte von Dirk Dobke und Bernadette Walter. Schaulager, Basel 2003.
  • Nicole Grothe, Daniela Ihrig: Dieter Roth: Schöne Scheiße. Dilettantische Meisterwerke. Museum Ostwall, Dortmund 2016.
  • Nils Röller: Roth der Grosse. Klever, Wien 2013.[1]
  • Thomas Eder und Florian Neuner (Hrsg.): Dieter Roth. Zum literarischen Werk des Künstlerdichters. edition text + kritik, München 2021 (ISBN 9783869166254)
  • Oswald Wiener (Hrsg.): Frühe Schriften und typische Scheiße., edition Hansjörg Mayer, Stuttgart/London/Reykjavík
  • Das Dieter Roth Orchester spielt kleine Wolken, typische Scheiße und nie gehörte Musik. Hörspiel für den Bayerischen Rundfunk. Herausgegeben und kompiliert von Wolfgang Müller und Barbara Schäfer. Gedichte von Dieter Roth aus „Typische Scheiße“ von Popmusikern vertont: Andreas Dorau, Stereo Total, Mutter, Namosh, Khan, Ghostigital, Trabant, Mouse on Mars und Wolfgang Müller. München 2006.
  • Die R adio Sonate, 45 Minuten Dieter Roth live am Klavier beim SDR in den früh Siebzigern. 2007 bei Seedy Cds/Dieter Roth Estate/Boekie Woekie neuaufgelegt.[12]

Hörfunk und Fernsehen (Querschnitt)

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  • 23. Januar 1974: Richard Hamilton: The Little World of Dieter Roth. (Radiointerview, BBC Radio 3, U.K.)
  • 26. November 1974: Rundschau am Abend: Statements und Auszüge. (NDR, Deutschland)
  • Februar 1977: Look Stop Listen: Nigel Finch/Richard Hamilton/Dieter Roth. (Tonbandaufnahmen, BBC Radio London/U.K.)
  • 1. Oktober 1984: „Dieter Roth/Walter Schmerling“ (WDR, Deutschland)
  • 7. Januar 1986: Diskussionsrunde im „Club“ (Schweiz) Damals war er unter Alkoholeinfluss (SF DRS, Schweiz)
  • 1988 – Doblhofer, Hannes: Der da in mir drinnen. (Hörbild zur Person des Malers, Zeichners, Schriftstellers und Kunstmaschinisten Dieter Roth. ORF Kunstradio, Österreich)
  • 1995: Hannes Doblhofer: „Gespräch in Wien 1995“ (ORF, Österreich)
  • 16. Juni 2006: Wolfgang Müller und Barbara Schäfer: Das Dieter-Roth-Orchester spielt kleine wolken, typische scheiße und nie gehörte musik. (Radio-Hommage an Dieter Roth, Bayerischer Rundfunk[13])
  • 11. Dezember 2007: Florian Neuner (Neue Musik): Selten gehörte Musik – Dilettantismus als Provokation: Dieter Roth. (Deutschlandradio Kultur)
Commons: Dieter Roth – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Großer Bahnhof für Dieter Roth in Berlin. kunstdunst.com, abgerufen am 25. Mai 2023.
  2. http://www.moma.org/collection/browse_results.php?object_id=64514
  3. Multimedial: Künstler Roth. freenet.de, archiviert vom Original am 2. August 2012; abgerufen am 15. Mai 2023.
  4. Dieter Roth, Große Tischruine, 1970-1998. documenta Kassel, 2007, archiviert vom Original am 2. August 2012; abgerufen am 27. Mai 2023.
  5. Kunst|Stück – Dieter Roth: Strandkasernen. In: Dieter Roth: Strandkasernen. Museumsfernsehen & Städel Museum, 4. März 2016, abgerufen am 25. November 2016 (deutsch).
  6. http://images.artnet.com/images_DE/magazine/2012-04/feature/karpowski04-17-12/solo-szenen.jpg
  7. http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/kulturjournal/vergaengliche-kunst100~_image-6_-e6eafdd02d017f47d2a63b6fede3a4cac227b7eb.html@1@2Vorlage:Toter Link/www.br.de (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im April 2018. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
  8. Train – Dieter Roth, Reykjavík Art Museum, abgerufen am 25. Juli 2015
  9. Städtische Galerie Villa Zanders Aktuelle Ausstellungen: Dieter Roth (Memento vom 9. Januar 2014 im Internet Archive), abgerufen am 9. Januar 2014
  10. DIFFUSES SELBST – Dieter Roth und andere Gescheiterte. LOFT – Raum für Kunst und Gegenwart, abgerufen am 24. November 2020.
  11. voegelekultur.ch (18. Juni 2020)
  12. Link-Text oder Link-Text
  13. Bayern 2 (Memento vom 18. Juni 2006 im Internet Archive)