Evokationsrecht – Wikipedia
Unter Evokationsrecht versteht man heute das Recht übergeordneter Instanzen, Arbeitsaufgaben oder Entscheidungen von einer nachgeordneten Ebene an sich zu ziehen.
Allgemeines
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Evokationsrecht (lateinisch evocatio, „Vorladung, Hervorrufen“) war im Mittelalter das ausschließliche Recht des Königs, jeden Rechtsstreit vor sein Hofgericht zu ziehen (lateinisch ius evocandi).[1] Alle Gerichtsgewalt stand dem König zu, indem er die Parteien aus der Instanz eines anderen Gerichtsherrn herausrief (lateinisch evocare).[2] Die Goldene Bulle von 1356 übertrug das Evokationsrecht mit dem Privilegium de non appellando auf die Kurfürsten,[3] der Verzicht auf dieses Evokationsrecht erfolgte letztlich durch die Kammergerichtsordnung von 1495.
Daraus leitete sich das heutige Recht von höheren Instanzen ab, bestimmte Sachverhalte, für die untergeordnete Instanzen eigentlich zuständig sind, an sich zu ziehen oder zu übernehmen.[4] Zu diesen Instanzen gehören Behörden, Dienststellen oder Unternehmen.
Behörden/Dienststellen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Evokationsrecht betrifft Behörden und Dienststellen und ermöglicht einem Amtsleiter/Behördenleiter/Dienststellenleiter den Zugang zu sämtlichen Vorgängen in seiner Behörde,[5] er darf jede Sache an sich ziehen und wieder abgeben.[6] Damit greift das Evokationsrecht in die autonome Zuständigkeit von Beschäftigten oder untergeordneten Behörden ein.
Im Strafprozessrecht darf die Staatsanwaltschaft ein Verfahren an sich ziehen (übernehmen) und auch wieder abgeben (§§ 74a Abs. 2 GVG, § 120 Abs. 2 GVG, § 386 Abs. 4 AO, Nr. 267 RiStBV; evokative Zuständigkeit). Die Staatsanwaltschaft kann eine Steuerstraftat jederzeit von sich aus an sich ziehen (Evokationsrecht der Staatsanwaltschaft gemäß § 386 Abs. 4 Satz 2 AO).[7] Die Staatsanwaltschaft kann bei Ordnungswidrigkeiten bis zum Erlass eines Bußgeldbescheides die Verfolgung der Ordnungswidrigkeit übernehmen, wenn sie eine Straftat verfolgt, die mit der Ordnungswidrigkeit zusammenhängt (§ 42 OWiG). Trotz zweier Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungskonformität sog. beweglicher Zuständigkeitsregelungen[8][9] ist die Frage, ob der von der Staatsanwaltschaft gewählte Richter als ein gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstanden werden kann, nach wie vor umstritten.[10]
Die Personalvertretungsgesetze der Bundesländer sehen das Recht der obersten Dienstbehörde (Regierung, Bundesoberbehörde, Gemeindevorstand) im Personalvertretungsrecht vor, in Mitbestimmungsverfahren sich einer an sich bindenden Entscheidung einer Einigungsstelle nicht anzuschließen, sondern selbst zu entscheiden, „wenn die Entscheidung im Einzelfall wegen ihrer Auswirkungen auf das Gemeinwohl wesentlicher Bestandteil der Regierungsgewalt ist.“[11]
Auch im Verwaltungsrecht ist das Evokationsrecht bekannt. So darf der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg gemäß § 1 Abs. 4 Verwaltungsbehördengesetz[12] „allgemein und im Einzelfall Weisungen erteilen und Angelegenheiten selbst erledigen, auch soweit eine Fachbehörde oder ein Bezirksamt zuständig ist.“ Demnach kann der Senat alle Vorgänge untergeordneter Verwaltungseinheiten nach eigenem Ermessen an sich ziehen (evozieren).[13] Dies schließt die Rückgängigmachung von Beschlüssen der Bezirksversammlungen mit ein.[14]
Im Insolvenzrecht ist vorgesehen, dass das Insolvenzverfahren überwiegend in der Zuständigkeit des Rechtspflegers liegt. Nach § 18 RPflG sind jedoch dem Richter einige Verfahren und Entscheidungen vorbehalten; ein an den Rechtspfleger übertragenes Verfahren kann der Richter wieder an sich ziehen.
Unternehmen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In Unternehmen mit mehreren Hierarchieebenen sind Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung des operativen Geschäfts von der obersten Ebene (Geschäftsführung, Vorstand) auf untergeordnete Ebenen delegiert. Diese untergeordneten Ebenen übernehmen dadurch die alleinige Zuständigkeit. In diese dürfen Vorgesetzte (Dienst- oder Fachvorgesetzte) ausnahmsweise eingreifen, indem sie eigentlich an Mitarbeiter delegierte Arbeitsvorgänge an sich ziehen. Bereits Reinhard Höhn sah dies im Führungsstil des Harzburger Modells vor, worin er dieses Recht als „Ersatzvornahme“ bezeichnete. Gibt danach ein Vorgesetzter seinem Mitarbeiter die Anweisung, eine bestimmte Handlung vorzunehmen oder eine Entscheidung auszuführen, so hat dieser die Pflicht, der Anweisung nachzukommen.[15] Kommt der Mitarbeiter dem pflichtwidrig nicht nach, so darf der Vorgesetzte im Rahmen der Ersatzvornahme durch eigene Tätigkeit oder die eines von ihm beauftragten Dritten die Anweisung ausführen oder ausführen lassen, um das gewünschte Arbeitsergebnis oder den gewünschten Führungserfolg herbeizuführen.[16] Bei dieser Ersatzvornahme handelt es sich nicht um eine (unzulässige) Rückdelegation, weil die Initiative vom Vorgesetzten ausgeht.
Kirchenrecht
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Papst kann im Kirchenrecht gemäß Codex Iuris Canonici (CIC) und Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium (CCEO) von sich aus jede Sache an sich ziehen (ius evocandi).[17][18]
EU-Recht
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im EU-Recht kann die Europäische Staatsanwaltschaft bei Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU ein bereits von nationalen Behörden eingeleitetes Verfahren übernehmen (Art. 25 Abs. 1 Verordnung (EU) 2017/1939 vom 12. Oktober 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA-VO)).
Im Kartellrecht besitzt die EU-Kommission nach Art. 11 Abs. 6 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln das Recht, ein Kartellverfahren an sich zu ziehen, wenn sie die Eindruck gewinnt, dass die nationale Wettbewerbsbehörde eine rechtswidrige Entscheidung erlassen will; hierdurch entzieht sie der nationalen Wettbewerbsbehörde die Zuständigkeit.[19]
Abgrenzung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Devolutionsrecht übernimmt die Perspektive des vom Evokationsrecht betroffenen Mitarbeiters oder der untergebenen Behörde, die Übergabe des Sachverhalts auf den Vorgesetzten oder die vorgesetzte Behörde vorzunehmen.
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Gerhard Köbler, Etymologisches Rechtswörterbuch, 1995, S. 119
- ↑ Wilhelm Volkert, Kleines Lexikon des Mittelalters: von Adel bis Zunft, 2004, S. 56
- ↑ Wilhelm Volkert, Kleines Lexikon des Mittelalters: von Adel bis Zunft, 2004, S. 57
- ↑ Eggert Winter (Hrsg.), Gabler Lexikon Recht in der Wirtschaft, 1998, S. 346
- ↑ Christian Heckel, Behördeninterne Geheimhaltung, in: NVwZ, 1994, S. 224
- ↑ Hans-Uwe Erichsen/Peter Badura/Wolfgang Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1975, S. 438
- ↑ BGH, Beschluss vom 30. April 2009, Az.: BGH 1 StR 90/09 = BGHSt 54, 9
- ↑ BVerfGE 9, 223 - Anklage beim Landgericht
- ↑ BVerfGE 22, 254
- ↑ Wiebke Arnold: Bewegliche Zuständigkeit versus gesetzlicher Richter. ZIS 2008, S. 92–100.
- ↑ § 71 Abs. 5 Hessisches Personalvertretungsgesetz, ähnlich auch in anderen Landespersonalvertretungsgesetzen – nicht jedoch im Bundespersonalvertretungsgesetz
- ↑ von 1952, letzte Änderung 2015
- ↑ Hamburgisches Verwaltungsbehördengesetz, abgerufen am 13. Dezember 2015.
- ↑ Hamburger Abendblatt vom 28. Januar 2006, Evokation – das Recht des Senats, abgerufen am 13. Dezember 2015.
- ↑ Reinhard Höhn/Gisela Böhme, Führungsbrevier der Wirtschaft, 1974, S. 161
- ↑ Reinhard Höhn/Gisela Böhme, Führungsbrevier der Wirtschaft, 1974, S. 162
- ↑ can. 1405 § 1 n. 4 CIC
- ↑ can. 1060 § 1 n. 4 CCEO
- ↑ Raphaela Thunnissen, Die kartellrechtliche Zulässigkeit von Musterversicherungsbedingungen, 2015, S. 120