Gefängnis Saidnaya – Wikipedia
Koordinaten: 33° 39′ 56″ N, 36° 19′ 48″ O
Das Gefängnis Saidnaya, arabisch سجن صيدنايا Sidschn Saidnaya, auch als Saidnaja, Sednaya oder Sednaja, ist ein 1986 gebautes, für zehn- bis zwanzigtausend Häftlinge[1] ausgelegtes Militärgefängnis in Syrien. Zunächst unter dem Regime von Hafiz al-Assad genutzt, wurde es unter dem Regime seines Sohnes und Nachfolgers Baschar al-Assad ab 2011 im Zuge der Aufstandsbewegung gegen das Regime und des Syrischen Bürgerkrieges zu einem Vernichtungslager des Assad-Regimes, in dem mehrere zehntausend bis möglicherweise bis zu hunderttausend Menschen ermordet wurden.[2] Im syrischen Volksmund wurde es als „Schlachthaus für Menschen“ bezeichnet.[2] In der Nacht vom 7. auf den 8. Dezember 2024 wurde das Gefängnis im Zuge des Sturzes des Assad-Regimes eingenommen und sämtliche Gefangenen befreit.
Lage
Der markante, dreiflügelige Hauptbau liegt 17 km nördlich von Damaskus und 5 km südwestlich von Saidnaya. Er befindet sich in einem 1403 Hektar großen Areal in einer Halbwüste auf einer Höhe von etwa 1300 m.
Die eigentliche Gefängnisanlage umfasst eine bewachte Fläche von etwa 160 m × 260 m. Diese ist, zusammen mit weiteren Funktionsgebäuden, eingeschlossen in einem zweiten Sicherungsring, der eine Ausdehnung von 600 m × 600 m hat. Diesem vorgelagert ist ein dritter Wall- und Patrouillenring, der eine Fläche von 900 m × 1000 m umschließt. Ein vierter Absperrungsring umspannt das gesamte Areal mit planmäßig angelegten Anlagen und kerzengeraden Fahrwegen in der Dimension von 1,16 km × 1,22 km.[3]
In der Anlage wurden 10.000 bis 20.000 Menschen festgehalten: im roten dreiflügeligen Gebäude Zivilpersonen, im westlich davon gelegenen weißen Gebäude Militärangehörige.[4]
Geschichte
Ereignisse vor 2011
Die Bemühungen, das Saidnaya-Gefängnis zu errichten, begannen 1978, als die syrische Regierung von den örtlichen Grundbesitzern Land konfiszierte und es dem Verteidigungsministerium zur Errichtung eines Gefängnisses überließ. Der Bau begann 1981 und wurde 1986 abgeschlossen. Die ersten Häftlinge trafen 1987 ein.[5]
Im Juli 2008 ereignete sich ein Gefängnisaufstand.[6]
Syrischer Bürgerkrieg 2011 bis zum Sturz des Assad-Regimes 2024
Zwar kam es vor Beginn des syrischen Bürgerkriegs, am Anfang der friedlichen Proteste gegen Baschar al-Assad 2011 zu einer Amnestie für radikalislamische Häftlinge, jedoch schlossen sich viele der Freigelassenen später islamistischen Rebellengruppen wie den Ahrar al-Scham an.
Einem Bericht von Amnesty International zufolge, der auf den Aussagen von 84 Zeitzeugen basiert, sind zwischen September 2011 und Dezember 2015 zwischen 5.000 und 13.000 überwiegend oppositionelle Zivilisten bzw. politische Gefangene im Auftrag des syrischen Regimes unter Baschar al-Assad im Gefängnis Saidnaya außergerichtlich hingerichtet worden.[7][8][9][10][11]
Im Mai 2017 warf die amerikanische Regierung der syrischen Regierung vor, ein Krematorium auf dem Gelände des Gefängnisses errichtet zu haben, um die Leichen hingerichteter Insassen ohne Aufsehen beseitigen zu können.[12] Die Behauptung stützte sich auf Satellitenaufnahmen, auf denen die Amerikaner das Fehlen von Schnee auf einem neueren Gebäude des Komplexes auf große Hitze im Inneren zurückführten. Daraus folgerten sie nach Angaben des State Departments, dort werde ein Krematorium betrieben, was sich nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International jedoch nicht unabhängig bestätigen ließ.[13]
Mitte 2018 stellte das syrische Regime ca. 5000 Todesurkunden für in den Foltergefängnissen Verstorbene aus. Es gab zu dem Zeitpunkt 13.000 bestätigte Todesfälle.[14][15]
Im Januar 2021 schätzte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR), dass im Verlauf des syrischen Bürgerkriegs 30.000 Häftlinge im Gefängnis Saidnaya getötet wurden.[16]
Der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte erklärte in einem im Juli 2023 veröffentlichten Bericht, dass in syrischen Haftanstalten, darunter Saidnaya, „anhaltend weit verbreitete und systematische Muster der Folter und grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen“ zur Anwendung kommen und Häftlinge verschwinden.[17]
Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024
Im Zuge einer Offensive syrischer Oppositionsgruppen unter Führung von Haiʾat Tahrir asch-Scham ab Ende November 2024 und des raschen Zusammenbruchs des Assad-Regimes im Dezember wurde das Gefängnis in der Nacht des 7. auf den 8. Dezember von Regimegegnern eingenommen und die Gefangenen freigelassen,[18][19][20][21] darunter auch Frauen und Kinder, auch Kleinkinder.[20][21] Unter den Befreiten sind Gefangene, die Jahrzehnte in Haft saßen; der angeblich am längsten einsitzende Gefangene, ein syrischer Luftwaffenpilot, der als 26-Jähriger im Jahr 1980 den Befehl verweigert hatte, zivile Gebiete in Hama zu bombardieren, saß demnach 43 Jahre in Haft.[2]
Im Zuge der Befreiung suchten Weißhelme – um weggesperrte Insassen nicht zu übersehen – mit Spürhunden, Durchbruchswerkzeugen, Suchgeräten und akustischen Sensoren nach unterirdischen Zellen, die es in dem Gefängniskomplex Gerüchten zufolge geben soll.[22][23] Am 9. Dezember 2024 gaben die Weißhelme in einem Statement das Ende ihrer Such-und-Rettungsoperation in dem Gefängnis bekannt; es seien keine geheimen und versiegelten, unterirdischen Räume gefunden worden.[24]
Opferzahlen und Menschenrechtsverletzungen unter dem Assad-Regime
Über die Zahl der in Saidnaya ermordeten Gefangenen gibt es unterschiedliche Angaben, die zeitlich versetzt sind. Die Schätzungen der Opferzahlen reichen bis zu rund einhunderttausend Toten.[2]
- Im Februar 2017 schätzte Amnesty International anhand eines veröffentlichten Berichts, der auf den Aussagen von 84 Zeugen basierte, die Zahl der außergerichtlich hingerichteten Gefangenen „zwischen September 2011 und Dezember 2015 im Gefängnis Saidnaya [auf] zwischen 5.000 und 13.000 Menschen“.[7][8][9][10][11]
- Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) ging im Januar 2021 davon aus, dass im Verlauf des syrischen Bürgerkriegs 30.000 Häftlinge in Saidnaya getötet wurden;[16]
Bekannte Inhaftierte
- Zahran Allusch (1971–2015), Führer der islamistischen syrischen Rebellengruppe Dschaisch al-Islam
- Hassan Abboud († 2014), syrischer Widerstandskämpfer der Ahrar al-Scham
- Abū Muhammad al-ʿAdnānī (1977–2016), Sprecher der Terrororganisation Islamischer Staat
- Haitham al-Malih, syrischer Menschenrechtsaktivist
- Omar Alshogre, syrischer Menschenrechtsaktivist
Weblinks
- Saydnaya - Inside a Syrian Torture Prison, Rekonstruktion von Forensic Architecture in Zusammenarbeit mit Amnesty International
- Amnesty International: Inside Saydnaya: Syria's Torture Prison auf YouTube, 18. August 2016 (Laufzeit: 10:25 min).
Einzelnachweise
- ↑ Saydnaya, Inside a Syrian Torture Prison. In: saydnaya.amnesty.org. Abgerufen am 8. Dezember 2024 (englisch).
- ↑ a b c d Mohannad al-Najjar, Anna-Sophie Schneider: (S+) Syrien: Das Grauen von Assads »Schlachthaus«. In: Der Spiegel. 9. Dezember 2024, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 9. Dezember 2024]).
- ↑ „Jeder griff sich Häftling und schlug ihn“: Zeugen berichten vom Horrorknast in Syrien. In: focus.de. 23. Mai 2017, abgerufen am 8. Dezember 2024.
- ↑ Jörg Diehl, Christoph Sydow: Amnesty-Bericht über das Todeslager Sednaja. In: Der Spiegel. 7. Februar 2017, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 8. Dezember 2024]).
- ↑ 'Death camp': the haunting history of Syria's Sednaya prison. In: france24.com. 9. Dezember 2024, abgerufen am 9. Dezember 2024 (englisch).
- ↑ Syria: Investigate Sednaya Prison Deaths | Human Rights Watch. 21. Juli 2008, abgerufen am 9. Dezember 2024 (englisch).
- ↑ a b https://saydnaya.amnesty.org/
- ↑ a b Amnesty zu Syrien: Bericht über Massenhinrichtungen mit 13.000 Toten. In: Spiegel Online. 7. Februar 2017, abgerufen am 10. Juni 2018.
- ↑ a b Oliver Wainwright: 'The worst place on earth': inside Assad's brutal Saydnaya prison | Architecture. In: theguardian.com. 17. August 2016, abgerufen am 5. Februar 2024 (englisch).
- ↑ a b Syria conflict: Thousands hanged at Saydnaya prison, Amnesty says. In: bbc.co.uk. 7. Februar 2017, abgerufen am 4. Februar 2024 (englisch).
- ↑ a b Pressebericht RP-online.de vom 7. Feb. 2017 (Geländemodell)
- ↑ Karen DeYoung: "Syria using crematorium to hide executions, State Department says" Washington Post vom 15. Mai 2017
- ↑ Inga Rogg: "Eine «Hollywood-Story» oder ein Beweis für die Verderbtheit des syrischen Regimes?" Neue Zürcher Zeitung vom 19. Mai 2017
- ↑ Marc Röhlig bento: Warum das Assad-Regime plötzlich zugibt, wie viele Menschen es in Syrien zu Tode gefoltert hat. Abgerufen am 16. Mai 2020.
- ↑ Deutsche Welle (www.dw.com): Syrien: Totenscheine sollen Assad-Regime stärken | DW | 04.08.2018. Abgerufen am 16. Mai 2020 (deutsch).
- ↑ a b Torture victims | Civilian from Daraa dies in Sednaya prison - The Syrian Observatory For Human Rights. In: syriahr.com. 9. Januar 2021, abgerufen am 8. Dezember 2024 (kanadisches Englisch).
- ↑ No End in Sight: Torture and ill-treatment in the Syrian Arab Republic 2020-2023. In: ohchr.org. 10. Juli 2023, abgerufen am 8. Dezember 2024 (englisch).
- ↑ Syrien: Die Insassen von Assads Foltergefängnissen sind frei - Politik - SZ.de, 8. Dezember 2024, abgerufen am 9. Dezember 2024.
- ↑ Syria Live Updates: Rebels Say They Have Entered Damascus. In: nytimes.com. 8. Dezember 2024, abgerufen am 8. Dezember 2024 (englisch).
- ↑ a b Syrien: Rebellen nehmen Foltergefängnis Saidnaja ein, t-online, 8. Dezember 2024, abgerufen am 9. Dezember 2024.
- ↑ a b Footage shows people emerging from Assad's notorious prisons, BBC, 8. Dezember 2024, abgerufen am 9. Dezember 2024.
- ↑ Nina Amin: Syrien: Weißhelme suchen nach Gefangenen in unterirdischen Zellen. Abgerufen am 9. Dezember 2024.
- ↑ Weißhelme: Bislang keine Geheimtüren in Foltergefängnis entdeckt. 9. Dezember 2024, abgerufen am 9. Dezember 2024 (englisch).
- ↑ Statement on the Conclusion of Search Operations for Possible Remaining Detainees in Secret Cells and Basements of Sednaya Prison | the White Helmets. In: whitehelmets.org. 9. Dezember 2024, abgerufen am 9. Dezember 2024.