Höfle-Telegramm – Wikipedia
Das so genannte Höfle-Telegramm ist ein Funkspruch, mit dem Hermann Höfle vom Stab des SS- und Polizeiführers Lublin, Odilo Globocnik, am 11. Januar 1943 Zahlenangaben über die jüdischen Opfer meldete, die bis zum Jahresende 1942 in Vernichtungslagern der Aktion Reinhardt ermordet worden waren. Die Quelle wurde erst 2001 veröffentlicht. Früher publizierte Forschungsarbeiten zu den Opferzahlen in diesen Lagern müssen abgeglichen werden.
Quellenüberlieferung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der aufgefangene Funkspruch wurde fünf Tage später vom britischen Abhördienst in Bletchley Park entziffert, sein Bedeutungszusammenhang jedoch wurde nicht erkannt. In einem Bestand, den das britische Nationalarchiv (seinerzeit: Public Record Office) im Jahre 2000 freigegeben hatte,[1] entdeckte Stephen Tyas die entschlüsselte Abschrift des Funkspruchs und erkannte dessen Bedeutung. Das Dokument wurde erstmals 2001 in einer Fachzeitschrift veröffentlicht.[2]
Am 11. Januar 1943 konnte der britische Abhördienst zwei Funksprüche der deutschen Polizeifunkstelle Lublin mit dem Rufzeichen OMQ aufnehmen. Vom ersten Funkspruch konnte nur der erste Teil als Geheime Reichssache mit dem Adressaten „An das Reichssicherheitshauptamt, zu Händen SS Obersturmbannführer Eichmann, Berlin“ einwandfrei empfangen und identifiziert werden. Es ist nicht klar, warum der an Eichmann gerichtete Funkspruch mit der Empfängerkennung OMX an das Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (WVHA) gesandt wurde: „Möglicherweise als Kopie zu Informationszwecken oder zur Weiterleitung an Eichmann.“[3]
Der zweite Funkspruch, ebenfalls als „Geheime Reichssache“ klassifiziert, folgte fünf Minuten später. Er war gerichtet an den [stellvertretenden] Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Krakau, Franz Heim;[4] als Absender wird der SS- und Polizeiführer Lublin angeführt und namentlich wird Sturmbannführer [Hermann Julius] Höfle genannt. Dieser Funkspruch – von britischen Auswertern entschlüsselt und niedergeschrieben – wird als „Höfle-Telegramm“ bezeichnet.
Da beide Funksprüche in geringem zeitlichem Abstand von derselben Stelle ausgingen, vermutet der Historiker Peter Witte, dass sie den gleichen Inhalt hatten.
Inhalt
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das sogenannte „Höfle-Telegramm“ nennt als Betreff „14-tägige Meldung Einsatz Reinhart“[5] und gibt folgende Daten, Buchstaben und Zahlen an:
„Fs. Zugang bis 31.12.42“
L [=Lublin/Majdanek] 12761, B [=Belzec] 0, S [=Sobibor] 515, T [=Treblinka] 10335
zusammen 23611.
“Stand…. [Lücke: per? ] 31.12.42”
L [=Lublin/Majdanek] 24733, B [=Belzec] 434508, S [=Sobibor] 101370, T [=Treblinka] 71355 [lies: 713555]
zusammen 1274166
Deutung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Zusammenhang mit der erwähnten Aktion Reinhardt lassen sich die Buchstaben aufschlüsseln und sind mit den bekannten Vernichtungslagern zu identifizieren. Bei den genannten Zahlen handelt es sich um die Anzahl der ermordeten Juden: Die zuletzt genannte Summe von 1.274.166 wird gleichfalls im Korherr-Bericht aufgeführt, der statistische Angaben zur „Endlösung der Judenfrage“ zusammenstellte. Ein Satz, in dem das Wort „Sonderbehandlung“ auf Weisung Himmlers getilgt wurde, enthält genau diese Zahl: „Es wurden durchgeschleust durch die Lager im Generalgouvernement 1.274.166 Juden …“
Auch andere Zahlenangaben des Höfle-Telegramms erscheinen plausibel oder lassen sich durch andere Quellen bestätigen. Der letzte Transport vor Auflösung des Vernichtungslagers Belzec ist für den 11. Dezember 1942 bezeugt. Wolfgang Scheffler ermittelte im Jahre 1971 in einem Prozessgutachten für Belzec eine Opferzahl von 441.442[6] und liegt mit seiner Berechnung etwa in der Größenordnung der im Funkspruch genannten Zahl 434.508. Die geringere Zahl von 515 Personen, die in der zweiten Dezemberhälfte in Sobibor ermordet wurden, stimmt mit der Information überein, dass im fraglichen Zeitraum nicht mehr als ein Deportationszug eintraf.[7] Als Gesamtzahl für 1942 in Sobibor weicht Schefflers Mindest-Schätzung von 102.577 von der Angabe im Höfle-Telegramm nicht allzu weit ab.[8]
Neu ist die Information, dass offenbar auch das Lager Lublin-Majdanek zeitweilig bei der Aktion Reinhardt eingebunden war. Witte und Tyas verweisen auf mehr als 38 Arbeitslager, die in der Nähe von Lublin lagen und bis Ende 1942 aufgelöst wurden.[9] Wahrscheinlich wurden Juden von dort nach Majdanek geschafft und ermordet, ohne dort im Lager vorher registriert zu werden. Hierzu konstatieren die beiden Historiker einen Forschungsbedarf. Eine neuere Forschungsarbeit zum Lager Lublin/Majdanek hält diese Deutung von Witte/Tyas für unstimmig. Die Historikerin Barbara Schwindt hält es aufgrund der Gegebenheiten für unwahrscheinlich, dass dort Ende Dezember 1942 eine große Anzahl von Opfern ermordet und verbrannt wurde.[10]
Die Zahlenangabe für Treblinka ist unrichtig wiedergegeben: Beim Entschlüsseln oder Aufschreiben ist offenbar die letzte Ziffer entfallen. Die ausgewiesene Gesamtsumme ist nur richtig, wenn statt 71.355 die Zahl 713.555 eingesetzt wird. Diese Zahl würde auch mit einem früheren Schätzwert von 730.500 übereingehen.[11]
Die Quelle – abgedruckt auch als VEJ 9/204 – wird als zuverlässig eingeschätzt.[12]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Peter Witte, Stephen Tyas: A New Document on the Deportation and Murder of Jews during „Einsatz Reinhard“ 1942. In: Holocaust and Genocide Studies, 15, 2001, 3, S. 468–486; ISSN 8756-6583; hgs.oxfordjournals.org Num. 15, Vol. 3.
- Barbara Schwindt: Das Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek. Funktionswandel im Kontext der „Endlösung“. Königshausen & Neumann, Würzburg 2005, ISBN 3-8260-3123-7, (zugleich: Köln, Univ., Diss., 2004).
- Peter Witte: …zusammen 12741662. In: Die Zeit, Nr. 3/2002.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Stichwort Höfle. members.aon.at/robert.holzbauer; abgerufen am 26. November 2008.
- ↑ Peter Witte, Stephen Tyas: A New Document on the Deportation and Murder of Jews during ‚Einsatz Reinhard’ 1942. In: Holocaust and Genocide Studies, 15, 2001, 3, S. 468–486; ISSN 8756-6583; hgs.oxfordjournals.org Num. 15, Vol. 3.
- ↑ Klaus-Peter Friedrich (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 (Quellensammlung) Band 9: Polen: Generalgouvernement August 1941–1945, München 2013, ISBN 978-3-486-71530-9, S. 570 in Anm. 4.
- ↑ Franz Heim war Stellvertreter von Eberhard Schöngarth – Witte, Tyas: A New Document… S. 480, Anm. 5.
- ↑ Zur Schreibung Reinhard[t] siehe …zusammen 12741662. In: Die Zeit, Nr. 3/2002.
- ↑ Robert Kuwałek: Bełżec. In: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 8: Riga, Warschau, Vaivara, Kaunas, Płaszów, Kulmhof/Chełmno, Bełżec, Sobibór, Treblinka. C.H. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-57237-1, S. 357ff.
- ↑ Witte, Tyas: A New Document… S. 473 mit Anm. 22.
- ↑ Witte, Tyas: A New Document… S. 472, Anm. 17.
- ↑ Witte, Tyas: A New Document… S. 473.
- ↑ Barbara Schwindt: Das Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek – Funktionswandel im Kontext der „Endlösung“. Würzburg 2005, ISBN 3-8260-3123-7, S. 183–186
- ↑ Witte, Tyas: A New Document… S. 472 mit Anm. 18: Yitzhak Arad nimmt 763.000 für April 1943 an.
- ↑ Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Durchgesehene Sonderausgabe in einem Band. München 2007, ISBN 978-3-406-56681-3, S. 859 f.