Irmgard Furchner – Wikipedia

Irmgard Magdalene Furchner (* 29. Mai 1925 als Irmgard Magdalene Dirksen in Kalthof bei Marienburg) ist eine deutsche Sekretärin und Stenotypistin, die im Alter von 18 und 19 Jahren im KZ Stutthof tätig war. Sie wurde deshalb im Februar 2021 im Alter von 95 Jahren wegen Beihilfe zum Mord in über 11.412 Fällen und wegen Beihilfe zum versuchten Mord in 18 weiteren Fällen angeklagt. Im Dezember 2022 wurde sie wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und zum versuchten Mord in 5 weiteren Fällen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren mit Bewährung verurteilt, die im August 2024 nach dem Verwerfen der Revision rechtskräftig wurde.

Eingang zum KZ Stutthof

Irmgard Furchner besuchte von 1931 bis 1939 die Volksschule und absolvierte anschließend das sogenannte Landjahr, danach machte sie eine kaufmännische Lehre. Eine erste Anstellung fand sie als Stenotypistin der Dresdner Bank in Marienburg.[1]

Vom 1. Juni 1943 bis zum 1. April 1945 arbeitete sie als Schreibkraft im KZ Stutthof. 1954 sagte sie als Zeugin in einem Prozess aus, dass sie als Stenotypistin dem KZ-Kommandanten Paul Werner Hoppe unterstellt gewesen war und der gesamte Schriftverkehr mit dem SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt durch ihre Hände gegangen sei. In Stutthof lernte sie den SS-Oberscharführer Heinz Gerhard Furchner (1906–1972)[2] kennen, den sie 1954 heiratete.[1][3] Von 1960 bis 2014 lebte sie in einem Mehrfamilienhaus in Schleswig und arbeitete bis zu ihrer Verrentung als Verwaltungsangestellte. Anschließend zog sie in ein Seniorenheim.[1][4]

Nach fünfjähriger Ermittlungsarbeit erhob die Staatsanwaltschaft Itzehoe im Februar 2021 Anklage gegen Irmgard Furchner. Die Staatsanwaltschaft hatte die Ermittlungen von der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen übergeben bekommen.[5] Der Prozess fand vor einer Jugendkammer des Landgerichts Itzehoe statt, da Furchner zur Zeit der ihr vorgeworfenen Taten erst 18 und 19 Jahre alt war.[6] Vor der Prozesseröffnung hatte sie mitgeteilt, nicht vor Gericht erscheinen zu wollen, und den Richter ersucht, ihr dies nicht zuzumuten. Mit Irmgard Furchner stand zum ersten Mal eine Zivilangestellte eines Konzentrationslagers vor Gericht.[7]

Ende September 2021 flüchtete Furchner am frühen Morgen des ersten Verhandlungstages aus ihrer Wohnung im Seniorenheim in Quickborn-Heide und fuhr mit einem Taxi zum Bahnhof Norderstedt Mitte (siehe Ausbleiben). Das Gericht erließ Haftbefehl; Furchner wurde rasch gefasst und verhaftet,[8][9][10][11] fünf Tage später wurde sie unter Auflagen (unter anderem das Tragen einer elektronischen Fußfessel[7]) aus der Untersuchungshaft entlassen.[12]

Am 19. Oktober 2021 begann der Prozess gegen Furchner mit dreiwöchiger Verspätung. Die Beschuldigte habe aufgrund ihrer Tätigkeit für den Kommandanten des Lagers Kenntnis über alle Vorgänge gehabt und sei „bis ins Detail“ über alle dort systematisch praktizierten Mordmethoden informiert gewesen, sagte Staatsanwältin Maxi Wantzen bei der Verlesung der Anklageschrift. Sie habe durch ihre Arbeit „die reibungslose Funktionsfähigkeit des Lagers“ gesichert.[13][14] Über ihren Anwalt bestritt Furchner, „persönlich eine strafrechtliche Schuld auf sich geladen zu haben“.[7] Erst am Ende des Prozesses brach sie ihr Schweigen und erklärte: „Es tut mir leid, was geschehen ist. Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen.“[15][16] Das Landgericht Itzehoe sprach die inzwischen 97-jährige Irmgard Furchner am 20. Dezember 2022 der Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und zum versuchten Mord in 5 weiteren Fällen schuldig. Sie wurde zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren mit Bewährung verurteilt.[17][18][19] Zwar galt bis 1953 schon ab dem 18. Geburtstag stets das Erwachsenenstrafrecht (obwohl die zivilrechtliche Volljährigkeit bis 1974 erst am 21. Geburtstag eintrat), allerdings war sie nach dem heute geltenden Jugendgerichtsgesetz zur Tatzeit Heranwachsende (vgl. Lex mitior).

Gegen dieses Urteil ließ Furchner durch ihren Anwalt Revision einlegen,[20] durch die der 5. Strafsenat des BGH in Leipzig das Urteil auf die Verletzung des materiellen Rechts prüfte (sogenannte Sachrüge[21]). Aufgrund der Bedeutung des Falles für die Rechtsprechung beantragte der Generalbundesanwalt die Durchführung der Revision in einer Hauptverhandlung statt ausschließlich auf dem Beschlussweg.[22] Am 20. August 2024 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision, sodass das Urteil rechtskräftig ist.[23][24]

Einzelnachweise

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  1. a b c Hans-Wilhelm Saure, Dino Schröder: Die furchtbare Frau Furchner. In: Bild.de. 22. August 2021, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 18. August 2021; abgerufen am 21. Dezember 2022.
  2. NS-Prozess in Itzehoe: „Sie konnte verbranntes Menschenfleisch riechen“ – WELT. 26. Oktober 2021, abgerufen am 1. August 2024.
  3. Christopher F. Schuetze: German Police Arrest 96-Year-Old Nazi Suspect Who Tried to Skip Court. In: nytimes.com. 30. September 2021, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 8. Juni 2022; abgerufen am 22. Dezember 2022 (englisch).
  4. Klaus Hillenbrand: Prozess zum Konzentrationslager Stutthof: Die Schuld der Sekretärin. In: taz.de. 26. September 2021, abgerufen am 20. Dezember 2022.
  5. Fabian Hillebrand: (S+) NS-Verbrechen: Wie Staatsanwalt Thomas Will die letzten Nazis vor Gericht stellt. In: Der Spiegel. 21. Dezember 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 25. Januar 2023]).
  6. Fabian Hillebrand: (S+) KZ-Stutthof-Prozess: Verteidigung fordert Freispruch. In: Der Spiegel. 6. Dezember 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 25. Januar 2023]).
  7. a b c Julia Jüttner: Prozess gegen KZ-Stutthof-Sekretärin Irmgard Furchner: Die Angeklagte schweigt. In: Der Spiegel. 19. Oktober 2021, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 20. Dezember 2022]).
  8. Julia Jüttner: Itzehoe: Ehemalige KZ-Sekretärin vor Prozessbeginn geflohen. In: Der Spiegel. 30. September 2021, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 20. Dezember 2022] kostenpflichtig).
  9. Prozess gegen Ex-KZ-Sekretärin: 96-Jährige nach Flucht verhaftet. In: Der Spiegel. 30. September 2021, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 20. Dezember 2022]).
  10. Frühere KZ-Sekretärin nach Flucht vor Prozess gefasst. In: Kurier. 30. September 2021, abgerufen am 20. Dezember 2022.
  11. Nazi Stutthof camp secretary flees as German trial starts. In: BBC News. 30. September 2021 (britisches Englisch, bbc.com [abgerufen am 30. September 2021]).
  12. 96-year-old German woman released after going on the run to skip Nazi war crimes trial. In: NBC News. Abgerufen am 6. Oktober 2021 (englisch).
  13. Anklage gegen Ex-Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof verlesen. In: Die Zeit. 19. Oktober 2021, abgerufen am 20. Dezember 2022.
  14. Stutthof-Prozess: Beihilfe zu Mord in mehr als elftausend Fällen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 20. Dezember 2022]).
  15. Klaus Hillenbrand: Angeklagte bricht ihr Schweigen. In: Die Tageszeitung. 6. Dezember 2022, abgerufen am 21. Dezember 2022.
  16. Fabian Hillebrand: (S+) KZ-Stutthof-Prozess: Verteidigung fordert Freispruch. In: Der Spiegel. 6. Dezember 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 25. Januar 2023]).
  17. Prozess gegen 95-jährige KZ-Sekretärin in Stutthof kann platzen. RedaktionsNetzwerk Deutschland, 7. Mai 2021.
  18. Frühere KZ-Sekretärin bekommt Bewährungsstrafe. In: tagesschau.de. Abgerufen am 20. Dezember 2022.
  19. LG Itzehoe, Urteil vom 20. Dezember 2022 – 3 KLs 315 Js 15865/16 jug.
  20. Stutthof-Prozess: 97-jährige KZ-Sekretärin ficht Verurteilung an. In: Der Spiegel. 28. Dezember 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 20. August 2024]).
  21. Michael Nordhardt, Frank Bräutigam: Revisionsurteil gegen KZ-Sekretärin. Warum die späte Aufarbeitung wichtig ist. In: tagesschau.de. 20. August 2024, abgerufen am 21. August 2024.
  22. Beihilfe zum Mord in Zehntausenden Fällen: BGH verhandelt über Revision von KZ-Sekretärin (98). TAG24, 1. Februar 2024, abgerufen am 20. August 2024.
  23. Kassian Stroh: Stutthof-Prozess: BGH verwirft Revision der ehemaligen KZ-Sekretärin Irmgard F. In: Süddeutsche Zeitung. 20. August 2024, abgerufen am 20. August 2024.
  24. Verurteilung einer ehemaligen Zivilangestellten im Konzentrationslager Stutthof rechtskräftig. Pressemitteilung. Bundesgerichtshof, 20. August 2024, abgerufen am 21. August 2024.