Kasteiung – Wikipedia
Kasteiung oder Selbstkasteiung (von lat. castigatio, ‚Züchtigung‘, das „Kasteien“[1]), im mittelalterlichen Deutsch Kestigung, bezeichnet freiwillige Entbehrungen und Leiden um eines höheren Gutes willen.
Das Wort Kasteiung wurde allerdings in historischen Zusammenhängen durchaus nicht ausschließlich für die selbst durchgeführte religiöse Praxis verwendet. Auch Strafen aus erzieherischen Gründen wurden so bezeichnet. So beschreibt der Beichtvater der Mystikerin Dorothea von Montau (1347–1394), wie sie ihre Kinder „vernünftig und hart“ schlug („sy casteyte sye [ihre Kinder] vornumftlich und hertlich“).[2]
Als eine Form der Askese erscheint Kasteiung, wenn man sie zur Beschränkung oder Abtötung der Triebhaftigkeit oder auch der Sinnlichkeit auf sich nimmt („Abtötung des Fleisches“) mit dem Ziel, innerlich frei zu werden für Höheres. Solche Kasteiung geschieht zum Beispiel durch den Entzug von Nahrung oder Schlaf durch Fasten und nächtliches Gebet oder auch das Tragen von härenen Hemden, Bußgürteln, oder eines Ciliciums.
Für die christliche Religion benennt Dinzelbacher fünf zentrale Formen der Kasteiung: Fasten, Venien (Kniebeugen), Selbstgeisselung, Wachen (Wachbleiben) und sexuelle Enthaltsamkeit.[3]
Zahlreiche Erlebnismystiker und -mystikerinnen des Mittelalters praktizierten harte Formen der Kasteiung. So trug Heinrich Seuse etwa Unterwäsche mit eingearbeiteten Nägeln und stichelte den Namen Jesu auf seine Brust, Adelheid Langmann verwendete zur Selbstverwundung eine Igelhaut, Christina von Retters schließlich verbrannte sich zur Abtötung des Fleisches ihre Scheide.[4] Mechthild von Magdeburg betrieb ihre Selbstgeißelungen wohl 20 Jahre lang sehr ausgiebig: „Ich mußte mich stets in großen Ängsten haben, und während meiner ganzen Jugend mit heftigen Abwehrhieben auf meinen Leib einschlagen; das waren: Seufzen, Weinen, Beichten, Fasten, Wachen, Rutenschläge und immerwährende Anbetung.“[5]
Catharina von Gebsweiler (1250–1330) beschreibt in ihren Lebensbeschreibungen den Klosteralltag: "Einige müheten sich in häufigen Kniebeugungen und schlugen sich selber unter dem Anbeten der Majestät des Herrn. (...) Andere geißelten sich und zerrissen auf’s Heftigste sich an einzelnen Tagen das Fleisch durch Ruthentstreiche, andere mit knotenreichen Riemen, welche zwei oder drei Ausläufer hatten, noch andere aber mit Dornengeißeln."[6]
Kasteiung kann auch eine Art der Buße und Sühne sein. Zuweilen geht es bei solchen Praktiken auch um das Erdulden von Schmerzen. Im öffentlichen Raum wurde solche Kasteiung in besonders spektakulärer Form von den Flagellanten oder Geißlern praktiziert.
Im Christentum kann Kasteiung auch im Sinne der Compassio, des körperlichen Mit- oder Nachvollzugs des Leidens Christi, erfolgen. Die Compassio im vergeistigten Sinn, in der es um das Mitleiden im seelischen Schmerz geht, kann hingegen nicht als Kasteiung verstanden werden.
Auch im heutigen Christentum spielen harte Formen der Kasteiung eine Rolle, beispielsweise in der Organisation Opus Dei. Die sogenannten Numerarier, zölibatär lebende Mitglieder, praktizieren neben anderen Formen der Askese auch das Tragen eines Bußgürtels (Cilicium) für zwei Stunden des Tages und eine wöchentliche Kasteiung im Sinne einer Selbstgeißelung.[7]
Auch im Hinduismus und im Islam gibt es die Selbstkasteiung. Ein Beispiel bei den Schiiten sind die Trauer- und Bußrituale, arabisch "Tatbir", anlässlich der schiitischen Passionsspiele, insbesondere am Märtyrer-Gedenktag Aschura, die manche Theologen allerdings auch als dem Ansehen der Religion schädlich kritisieren.
Formen der Kasteiung im Sinne der Askese gibt es nahezu in allen Kulturen.
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Peter Dinzelbacher: Diesseits der Metapher: Selbstkreuzigung und -stigmatisation als konkrete Kreuzesnachfolge. In: Revue Mabillon. Nouvelle série, Band 7 (Band 68), 1996, S. 157–181 (PDF).
- Peter Dinzelbacher: Über die Körperlichkeit in der mittelalterlichen Frömmigkeit. In: Peter Dinzelbacher: Körper und Frömmigkeit in der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte. Schöningh, Paderborn 2007 (S. 11–50).
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Johann August Eberhards Synonymisches Handwörterbuch der deutschen Sprache. 1910, Nr. 844: Kasteien, Züchtigen.
- ↑ Das Leben der heiligen Dorothea von Johannes Marienwerder. Hrsg. v. Max Toeppen. In: Scriptores rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preußischen Vorzeit. Band 2. Hrsg. v. Theodor Hirsch, Max Toeppen, Ernst Strelke. Leipzig: Hirzel. (S. 179–374; Zitat: S. 220)
- ↑ Dinzelbacher, Peter (2007). Über dir Körperlichkeit in der mittelalterlichen Frömmigkeit. In: Peter Dinzelbacher: Körper und Frömmigkeit in der Mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte. Schöningh (S. 11–50)
- ↑ Heinrich Seuse, (1907, unveränderter Nachdruck 1961). Deutsche Schriften. Hrsg. v. Karl Bihlmeyer. Stuttgart: Kohlhammer. (Nachdruck: Frankfurt am Main: Minerva, S. 39 ff.; vgl. vor allem die Kapitel 15 bis 18.). Vgl. zu Adelheid Langmann: Die Offenbarungen der Adelheid Langmann, Klosterfrau zu Engelthal. Hrsg. von Philipp Strauch. Trübner, Straßburg, S. 53. Vgl. zu Christina von Retters (1965), S. 235: „Zo eym anderen mail namme sie eyn burnende hoiltze vnd stieße daz selbe also gluedich yn yren lyffe, also daz daz lypliche fure das fure yrer bekarunge myt groißen smertzen verleyst.“ In: Lebensbeschreibung der sel. Christina, gen. von Retters. Hrsg. v. Paul Mittermaier. In: Archiv für Mittelrheinische Kirchengeschichte, 17, 209–252 und (1966), 18, 203–238.
- ↑ Mechthild von Magdeburg (1955). Das fließende Licht der Gottheit. Einsiedeln, Zürich, Köln: Benzinger, S. 174.
- ↑ Ludwig Clarus (Hrsg., Pseudonym v. Wilhelm Volk)(1863): Lebensbeschreibung der ersten Schwestern des Klosters der Dominikanerinnen zu Unterlinden von deren Priorin Catharina von Gebsweiler. Regensburg: Manz. S. 54. Vgl. zum Thema Kasteiung S. 84 f., 157, 209, 226, 296, 382 u. 389.
- ↑ Clemens Karpf, Brigitte Sindelar (2015): Überlegungen zur leitenden Fiktion selbstverletzender Verhaltensweisen in Religion, Gesellschaft und Psychopathologie. In: Zeitschrift für freie psychoanalytische Forschung und Individualpsychologie, 2 (2), S. 54–69. (Beleg S. 59). DOI:10.15136/2015.2.2.54-69