Klassenjustiz – Wikipedia

Der Begriff Klassenjustiz wird von Marxisten zur Charakterisierung der Justiz als Instrument der Klasse der Herrschenden (Kapitalisten) im Klassenkampf zur Aufrechterhaltung der Klassengesellschaft bezeichnet. Im Realsozialismus wurde der Begriff der Klassenjustiz als Beschreibung der eigenen Justiz hingegen positiv verwendet. Im demokratischen Rechtsstaat gilt der Gleichheitsgrundsatz, der eine Klassenjustiz im Sinne einer unterschiedlichen rechtlichen Behandlung Angehöriger unterschiedlicher Klassen verbietet.

Sozialstruktur und Strafvollzug

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Dass die sogenannten "unteren Klassen" in den letzten 200 Jahren sehr viel häufiger und länger inhaftiert wurden als Angehörige der sogenannten "höheren Klassen", wurde bereits in den 1930er Jahren in einer Untersuchung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Georg Rusche/ Otto Kirchheimer: Sozialstruktur und Strafvollzug, festgestellt. Aktuellere Untersuchungen wie die des Philosophen Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, und des Soziologen Loïc Wacquant Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der Unsicherheit, knüpfen an dieser Studie an.

Spontane Klassenjustiz

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Ralf Dahrendorf konstatierte 1962,[1] dass bisweilen auch gänzlich unbeabsichtigte Korrelationen der Gesellschaftsstruktur eine spontane „Klassenjustiz“ bewirkten, weil Richter zumeist der Oberschicht angehörten und viele Delinquenten der Unterschicht entstammen. Die soziale Distanz der lediglich im Gerichtssaal auflaufenden sozialen Schichten (keine Klassen im marxschen Sinne) fänden dort wohl kaum eine Chance, ihr sozial geprägtes Gesellschaftsverständnis zu harmonisieren.

In der Weimarer Republik

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Der Justiz der Weimarer Republik wird angelastet, „auf dem rechten Auge blind“ gewesen zu sein, d. h. Taten rechtsextremer Straftäter milde, diejenigen der Linksextremen jedoch mit der vollen Härte des Gesetzes verfolgt zu haben.[2] Deutlich wird das an der von Emil Julius Gumbel in seinem Buch Vier Jahre politischer Mord aufgestellten Statistik, die deutlich macht, dass die Höhe der Strafen von linken Straftätern ein Vielfaches jener von rechts ausmacht.[3]

Ein Grund hierfür war, dass die Beamten- und Richterschaft nach dem Ende des Kaiserreichs nicht entlassen wurde, sondern in ihren Ämtern verblieb. Die Richter standen in der Mehrheit konservativen politischen Positionen nahe.[4] So sprachen in der Weimarer Republik Richter Recht, die vorher noch Sozialdemokraten bekämpft hatten. Auch werden im deutschen Strafrecht Eigentumsdelikte, wie sie tendenziell eher von Linken begangen werden, traditionell härter bestraft als Körperverletzungen, zu denen eher Rechte neigen.

Von linker Seite wurde der Justiz der Weimarer Republik daher vielfach der Vorwurf der Klassenjustiz gemacht.[5]

Zur marxistischen Verwendung des Begriffs

  • Rechtsstaat und Klassenjustiz : Texte aus der sozialdemokratischen "Neuen Zeit" 1883 - 1914, hrsg. und mit einem Anh. vers. von Detlef Joseph, Freiburg [Breisgau] [u. a.] : Haufe, 1996
  • Ernst Fraenkel: Zur Soziologie der Klassenjustiz, Berlin 1927, auch in: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, Recht und Politik in der Weimarer Republik, hrsg. von Hubertus Buchstein, Baden-Baden: Nomos, 1999, S. 177–211
  • Friedrich K. Kaul: … ist zu exekutieren! Ein Steckbrief der deutschen Klassenjustiz. Verlag Neues Leben, Berlin 2006, ISBN 978-3-355-01724-4.
  • Karl Liebknecht, Rechtsstaat und Klassenjustiz, in Gesammelte Reden und Schriften, Berlin 1960–1961, Band II, S. 35 ff.
  • Rolf Geffken, Klassenjustiz, Frankfurt, Marxistische Taschenbücher, 1972
  • Rolf Geffken: Zurück zur Klassenjustiz ? (2007). In: Rosa Luxemburg Gesellschaft: Zurück zur Klassenjustiz ?
  • Sascha Regier: Rechtsprechung als Klassenjustiz. War das was?. In: Forum Wissenschaft 3/2024: Kritische Rechtswissenschaft und Kritische Justiz.

Zur Klassenjustiz im Realsozialismus

  • Hermann Wentker: Die Errichtung der Klassenjustiz nach 1945 in der SBZ/DDR in diktaturvergleichender Perspektive. Institut für Zeitgeschichte, Außenstelle Potsdam.
  • Petra Weber: Justiz und Diktatur: Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen 1945-1961. In: Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte. Bd. 46, München 2000.
  • Hermann Wentker (Hrsg.): Volksrichter in der SBZ/DDR 1945 bis 1952. Eine Dokumentation. München 1997.

Zur politischen Verwendung des Begriffs

  • Ralf Dahrendorf, Bemerkungen zur sozialen Herkunft und Stellung der Richter an Oberlandesgerichten. Ein Beitrag zur Soziologie der deutschen Oberschicht, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 5, S. 260–275; wieder abgedruckt in: Gesellschaft und Freiheit, München, S. 176–196.

Zur historischen Dimension in Großbritannien

  • Peter Linebaugh: The London Hanged. Crime and Civil Society in the Eighteenth Century. Verlag Verso, London 2003, ISBN 1-85984-638-6.
Analyse der britischen Justiz des 18. Jahrhunderts in Bezug auf die Sozialstruktur der Verurteilten; Rezension unter [6]

Zur Verknüpfung von Sozialstruktur und Strafvollzug:

  • Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses Frankfurt a. M. 1976
  • Georg Rusche, Otto Kirchheimer: Sozialstruktur und Strafvollzug, Frankfurt a. M./ Köln 1974
  • Loïc Wacquant: Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der Unsicherheit, Opladen/ Berlin/ Toronto 2009

Einzelnachweise

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  1. Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Freiheit. München 1962, S. 195.
  2. Gotthard Jasper: Justiz und Politik in der Weimarer Republik, in: VfZG, Heft 2, 1982. S. 167ff. (PDF).
  3. Für Gumbel waren es Beispiele für Klassenjustiz, Vier Jahre Mord, Berlin 1922, S. 87.
  4. Gotthard Jasper: Justiz und Politik in der Weimarer Republik, VfZG, Heft 2, 1982. S. 198.
  5. Gotthard Jasper: Justiz und Politik in der Weimarer Republik, VfZG, Heft 2, 1982. S. 199.
  6. geschichte-transnational: Rezension zu: Peter Linebaugh: The London Hanged. …