Adolphe Thiers – Wikipedia
Louis Adolphe Thiers (* 16. April 1797 in Marseille; † 3. September 1877 in Saint-Germain-en-Laye) war ein französischer Politiker und Historiker. Er war von 1871 bis 1873 der erste Staatspräsident der Dritten Republik. Von 1830 bis 1851 sowie von 1863 bis 1877 gehörte er dem Parlament an.
Herkunft und Jugend
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Thiers stammte aus einer Beamtenfamilie: Sein Vater Pierre-Louis-Marie Thiers war in Marseille Beamter des Stadtarchivs, später Unternehmer; er war der älteste Sohn des früheren Bürgermeisters und Parlamentsadvokaten Louis-Charles Thiers. Seit 1806 besuchte Adolphe das Lyzeum seiner Heimatstadt, 1815 begann er in Aix-en-Provence Jura zu studieren. 1820 wurde er als Rechtsanwalt zugelassen, fühlte sich jedoch mehr zur Literatur als zum Anwaltsberuf hingezogen und beschäftigte sich in seiner Freizeit auch mit historischen Studien.[1]
Leben
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Thiers lebte ab 1821 in Paris und schloss sich dort liberalen Kreisen an. Talleyrand wurde sein Förderer. Schnell stieg Thiers zum wichtigsten Journalisten des Constitutionnel auf, des wichtigsten Blattes der liberalen Bewegung. Später wurde er Mitbegründer der radikaleren liberalen Zeitung Le National, die eine konstitutionelle Monarchie forderte und damit zum Sprachrohr der Julirevolution 1830 wurde. Mit der Veröffentlichung von Thiers’ Geschichte der französischen Staatsumwälzung (Histoire de la Révolution française) (1823 bis 1827) begann allgemein eine neue, positivere Sichtweise der französischen Revolution; Thiers war vor allem ein Bewunderer Napoleons.
1830 war Thiers der entscheidende Fürsprecher der Herrschaftsübernahme durch den „Bürgerkönig“ Louis Philippe. Bei der auf die Revolution folgenden Wahl wurde Thiers zum Abgeordneten gewählt und in den Staatsrat entsandt. In den Jahren 1832 bis 1836 bekleidete Thiers nacheinander mehrere Ministerämter. Vom 22. Februar bis zum 5. September 1836 sowie vom 1. März bis zum 28. Oktober 1840 war er Ministerpräsident. Die innenpolitische Krise suchte er durch außenpolitische Erfolge zu überspielen. In der Orientkrise unterstützte Frankreich unter Thiers die ägyptischen Separationsbestrebungen, musste jedoch wegen der entschiedenen Haltung der verbündeten Großmächte Großbritannien, Russland, Preußen und Österreich einlenken. Von diesem Misserfolg sollte mit der Rheinkrise abgelenkt werden, die durch französische Forderungen nach dem Rhein als französischer Ostgrenze ausgelöst wurde. Die Ausweitung des französischen Einflusses bis an den Rhein sowie im Mittelmeer waren Thiers’ zentrale politische Forderungen. Nicht zuletzt dadurch geriet er in Konflikt mit dem König und mit großbürgerlichen Kreisen, worauf er im Oktober 1840 – nach den Misserfolgen in der Orientkrise und der Rheinkrise – zurücktreten musste und ins oppositionelle Lager wechselte. Allerdings wandte sich Thiers noch stärker gegen die radikale republikanische Linke als gegen Louis Philippe und Ministerpräsident François Guizot.
Nach dem Sturz Louis Philippes 1848 verfolgte Thiers eine liberal-konservative Politik und bekämpfte die politische Linke. In seinen Vorstellungen von einer „konservativen Republik“ wandte er sich unter anderem gegen das 1848 eingeführte allgemeine Wahlrecht und befürwortete einen großen Einfluss der katholischen Kirche im Bildungswesen.
Thiers hielt zwar Napoleon Bonaparte für einen großen Mann, weigerte sich jedoch, dessen Neffen Napoleon III. bei seinem Staatsstreich zu unterstützen. Dafür wurde er 1851 verhaftet und ins Exil getrieben. Von seiner Rückkehr ins Parlament 1863 an avancierte Thiers zur Leitfigur der liberalen Opposition gegen den Kaiser. Vor dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870 gehörte er zu den entschiedensten Kriegsgegnern. Der Regierung der nationalen Verteidigung blieb er fern, unternahm jedoch im Auftrag ihres Außenministers Jules Favre im Herbst 1870 eine sechswöchige Reise in verschiedene europäische Hauptstädte (u. a. London und Sankt Petersburg), um – letztlich erfolglos – Unterstützung für die französische Seite zu organisieren.[1] Thiers wurde wegen seiner Haltung während der Belagerung von Paris durch die deutschen Truppen vor allem von linker und linksextremer Seite vorgeworfen, die Sache Frankreichs zu verraten. Am 17. Februar 1871 wurde er von der am 8. Februar gewählten Nationalversammlung zum „Chef der Exekutive“ gewählt und – zusammen mit Favre – mit der Führung der Friedensverhandlungen mit Otto von Bismarck beauftragt. Um die Putschgefahr durch die das Wahlergebnis nicht respektierenden Teile der Pariser Nationalgarde und ihres Führungspersonals zu verringern, befahl Thiers der Armee, sich wieder in den Besitz der zuvor gestohlenen rund 400 Kanonen zu setzen, was jedoch scheiterte und den Aufstand der Pariser Kommune unmittelbar auslöste. Ende Mai 1871 wurde dieser Aufstand von der Versailler Regierung unter Thiers' Leitung niedergeschlagen. Bei den anschließenden Massenexekutionen während der sog. blutigen Maiwoche wurden zwischen 17.000 und 35.000 echte oder vermeintliche Kommunarden von den Regierungstruppen hingerichtet.[2] Thiers prahlte in einer Rede am 24. Mai des Jahres damit, dass er „Ströme von Blut“ vergossen habe.[3][4]
Karl Marx kritisierte Thiers als prinzipien- und skrupellosen Opportunisten, der nur auf den eigenen Vorteil bedacht gewesen sei. In seiner Adresse der Ersten Internationale zum „Französischen Bürgerkrieg“ schrieb er: „Thiers war konsequent nur in seiner Gier nach Reichtum und in seinem Hass gegen die Leute, die ihn hervorbringen. Er trat in sein erstes Ministerium unter Louis-Philippe arm wie Hob [Hiob]; er verließ es als Millionär.“[5]
Bei den Wahlen vom 8. Februar 1871 wurde Thiers in 26 Départements gewählt, darunter auch in Paris, wo er das Mandat annahm.[1]
Am 31. August 1871 wurde Thiers der erste Staatspräsident der Dritten Republik und behielt sein Amt bis 1873. Da die Royalisten in der Nationalversammlung die Mehrheit stellten und Thiers – obwohl zuvor Befürworter einer konstitutionellen Monarchie – sich für die Beibehaltung der Republik aussprach, musste er am 24. Mai 1873, einen Tag nach einem erfolgreichen Misstrauensvotum, zurücktreten. 1865 wurde Thiers in die Académie royale des Sciences, des Lettres et des Beaux-Arts de Belgique[6] und 1875 in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. Als 1877 die Regierung seines Nachfolgers Patrice de Mac-Mahon zerbrach und sich die republikanische endgültig gegen die royalistische Fraktion durchsetzte, galt Thiers erneut als aussichtsreichster Kandidat für das Präsidentenamt. Er starb jedoch während des Wahlkampfs im Alter von 80 Jahren am 3. September 1877 in Saint-Germain-en-Laye und wurde in einer Grabkapelle auf dem Friedhof Père-Lachaise in Paris beigesetzt.
Thiers war seit 1833 mit Élise Thiers (1818–1880) verheiratet.
Werke
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Histoire de la Révolution française. Lecointe et Durey, Paris 1823–1827. ((online) bei gutenberg.org), deutsche Übersetzung:
- Geschichte der französischen Staatsumwälzung
- Histoire du Consulat et de l’Empire, faisant suite à l’Histoire de la Révolution française. Paulin, Paris 1845–1862. (dt.: Geschichte des Konsulats und des Kaiserreichs. 1843–1864. Reprint: VRZ-Verlag, Hamburg ISBN 3-931482-22-7).
- De la propriété. Paulin, Lheureux et Cie, Paris 1848. (dt.: Über das Eigentum. Mannheim 1848. Reprint: VRZ-Verlag, Hamburg ISBN 3-931482-21-9).
- Histoire de Law. Michel-Lévy frères, Paris 1858.
- Discours parlementaires. C. Lévy, Paris 1879–1889. (16 Bände, herausgegeben von Marc Antoine Calmon).
- Notes et souvenirs de M. Thiers, 1870–1873. Voyage diplomatique, proposition d’un armistice, préliminaires de la paix, présidence de la République. Herausgegeben von Félicie Dosne. Calmann-Lévy, Paris 1903. (Neuausgabe: Philippe Larochette (Hrsg.): Mémoires 1870–1873: voyage diplomatique, proposition d’un armistice, préliminaires de la paix, présidence de la République. Paleo, Clermont-Ferrand 2003, ISBN 2-84909-018-2).
- Occupation et libération du territoire, 1871–1873. Correspondances. Calmann-Lévy, Paris 1903. (2 Bände).
- 1841–1865. Correspondances. M. Thiers à Mme Thiers et à Mme Dosne. Mme Dosne à M. Thiers. Paris 1904. (herausgegeben von Félicie Dosne).
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Robert Christophe: Le siècle de Monsieur Thiers. Pr. de France, Paris 1966.
- Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich. Zentralantiquariat der DDR, Leipzig 1983. (hrsg. von Friedrich Engels)
- Alexandre Laya: Etudes historiques sur la vie privée, politique et littéraire de M. A. Thiers; histoire de quinze ans: 1830–1846. Furne, Paris 1846.
- François J. Le Goff: The life of Louis Adolphe Thiers. translated from the unpublished manuscript by Th. Stanton. Putnam’s Sons, New York 1879.
- Paul de Rémusat: A. Thiers. Hachette et cie, Paris 1889.
- Henri Doniol: M. Thiers, le comte de Saint Vallier, le général de Manteuffel; libération du territoire 1871–1873, documents inédits. A. Colin et cie, Paris 1898.
- Pierre F. Simon: Adolphe Thiers, chef du pouvoir exécutif et président de la République française. Cornély et cie, Paris 1911.
- Daniel Halévy: Le courrier de M. Thiers d’après les documents conservés au Département des manuscrits de la Bibliothèque nationale. Payot, Paris 1921.
- John M. S. Allison: Thiers and the French monarchy. Houghton Mifflin, Boston-New York 1926.
- Eurydice Dosne: Mémoires de Madame Dosne, l’Égérie de M.Thiers. publiés avec une introduction et des notes par H. Malo, 2 vol. Plon, Paris 1928.
- Hyacinthe Chobaut, Jean de Servières: Les Origines de M. Thiers. Institut historique de Provence, Marseille 1930.
- Robert Dreyfus: La république de Monsieur Thiers (1871–1873). Gallimard, Paris 1930.
- John M. S. Allison: Monsieur Thiers. Norton, New York 1932.
- Henri Malo: Thiers 1797–1877. Payot, Paris 1932.
- Georges Lecomte: Thiers. Dunod, Paris 1933.
- Jean Lucas-Dubreton: Aspects de Monsieur Thiers. Fayard, Paris 1948.
- Charles Pomaret: Monsieur Thiers et son siècle. Gallimard, Paris 1948.
- Georges Roux: Thiers. Nouvelles éditions latines, Paris 1948.
- François Charles-Roux: Thiers et Méhémet-Ali. Plon, Paris 1951.
- Robert Marquant: Thiers et le baron Cotta, étude sur la collaboration de Thiers à la “Gazette d’Augsbourg”. PUF, Paris 1959.
- Robert Christophe: Le siècle Monsieur Thiers. Perrin, Paris 1966.
- Henri Guillemin: L’avènement de M. Thiers et Réflexions sur la Commune. Gallimard, Paris 1971.
- René Albrecht-Carrié: Adolphe Thiers or The triumph of the bourgeoisie. Twayne Publishers, Boston 1977, ISBN 0-8057-7717-2.
- John P. T. Bury, Robert P. Tombs: Thiers, 1797–1877: a political life. Allen & Unwin, London 1986, ISBN 0-04-944013-6.
- Pierre Guiral: Adolphe Thiers ou De la nécessité en politique. Fayard, Paris 1986, ISBN 2-213-01825-1.
- Jean Walch: Les maîtres de l’histoire, 1815–1850: Augustin Thierry, Mignet, Guizot, Thiers, Michelet, Edgard Quinet. Slatkine, Genf 1986, ISBN 2-05-100719-5.
- Frédéric Martel: Philosophie du droit et philosophie politique d’Adolphe Thiers. LGDJ, Paris 1995, ISBN 2-275-00252-9.
- Monsieur Thiers d’une République à l’autre, actes du colloque tenu à l’Académie des sciences, lettres et arts de Marseille, Marseille, 14 novembre 1997. Publisud, Paris 1998, ISBN 2-86600-703-4.
- Beim kleinen Thiers. In: Die Gartenlaube. Heft 19, 1867, S. 297–300 (Volltext [Wikisource]).
- Adolf Thiers. In: Hottinger’s Volksblatt, 1878, Nr. 6, S. 41–44.
- Max Nordau: Französische Staatsmänner. Musaicum Books, 2017, ISBN 978-80-7583-357-0, S. 28–43 (Erstausgabe: 1916).
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Literatur von und über Adolphe Thiers im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Werke von und über Adolphe Thiers in der Deutschen Digitalen Bibliothek
- Adolphe Thiers im Internet Archive
- Karikaturen zu Adolphe Thiers in HeidICON Gast-Zugang nutzen
- Kurzbiografie und Werkliste der Académie française (französisch)
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ a b c Französische Nationalversammlung: Biografien ehemaliger Abgeordneter: Marie, Joseph, Louis, Adolphe THIERS (französisch), o. D., abgerufen am 1. Juli 2015.
- ↑ John Merriman: Massacre. The Life and Death of the Paris Commune of 1871. New Haven, Yale University Press, 2014, S. 250
- ↑ wörtlich J'ai versé des torrents de sang, Zitat in Camille Pelletan: La semaine de mai, Paris, M. Dreyfous, 1880, S. 17
- ↑ John Merriman: Massacre. The Life and Death of the Paris Commune of 1871. New Haven, Yale University Press, 2014, S. 209
- ↑ mlwerke.de
- ↑ Académicien décédé: Louis Adolphe Thiers. Académie royale des Sciences, des Lettres et des Beaux-Arts de Belgique, abgerufen am 8. März 2024 (französisch).
Vorgänger | Amt | Nachfolger |
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Napoleon III. | Präsident von Frankreich und Kofürst von Andorra 31. August 1871 – 24. Mai 1873 | Patrice de Mac-Mahon |
Napoleon III. (als Kaiser) Louis Jules Trochu (als Premierminister) | Staats- und Regierungschef Chef du pouvoir exécutif de la République française 17. Februar 1871 – 31. August 1871 | selbst (als Präsident) |
Antoine Maurice Apollinaire d'Argout | Handelsminister und Minister für öffentliche Arbeiten 31. Dezember 1832 – 4. April 1834 | Hippolyte Passy |
Marthe Camille Bachasson de Montalivet Antoine Maurice Apollinaire d'Argout Hugues-Bernard Maret | Innenminister 11. Oktober 1832 – 31. Dezember 1832 4. April 1834 – 10. November 1834 18. November 1834 – 22. Februar 1836 | Antoine Maurice Apollinaire d'Argout Hugues-Bernard Maret Marthe Camille Bachasson de Montalivet |
Achille-Léon-Victor de Broglie Nicolas Jean-de-Dieu Soult | Außenminister von Frankreich 22. Februar 1836 – 6. September 1836 1. März 1840 – 29. Oktober 1840 | Louis-Mathieu Molé François Guizot |
Achille-Léon-Victor de Broglie Jean-de-Dieu Soult Louis-Mathieu Molé | Vorsitzender des Ministerrats 22. Februar 1836 – 6. September 1836 1. März 1840 – 29. Oktober 1840 24. Februar 1848 | Louis-Mathieu Molé Jean-de-Dieu Soult Jacques Charles Dupont de l'Eure |
Personendaten | |
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NAME | Thiers, Adolphe |
ALTERNATIVNAMEN | Thiers, Louis Adolphe (vollständiger Name) |
KURZBESCHREIBUNG | französischer Staatsmann und Historiker |
GEBURTSDATUM | 16. April 1797 |
GEBURTSORT | Marseille, Frankreich |
STERBEDATUM | 3. September 1877 |
STERBEORT | Saint-Germain-en-Laye, Frankreich |