Madchalismus – Wikipedia

Madchalismus (التيار المدخلي) ist eine islamistische Strömung bzw. Bewegung innerhalb des Salafismus, die auf den Schriften des Scheichs Rabīʿ ibn Hādī al-Madchalī, einem Professor an der Islamischen Universität Medina, beruht.[1][2][3][4] In Saudi-Arabien gegründet, verlor die Bewegung dort später ihre Unterstützung und wurde hauptsächlich in muslimische Gemeinschaften Europas verdrängt.[5] Der Politikwissenschaftler Omar Ashour beschrieb sie als sektenähnlich.[6]

Rabīʿ al-Madchalī, nach dem der Madchalismus benannt ist, war bis in die späten 1980er-Jahre ein Mitglied der saudi-arabischen Muslimbruderschaft. Die von ihm gegründete Bewegung steht dieser, aber auch dem rivalisierenden, nach Sayyid Qutb benannten Qutbismus deutlich entgegen.[7] Seit seiner Gründung in den frühen 1990er-Jahren erfuhr der Madchalismus eine Förderung durch die saudi-arabische und die ägyptische Regierung, da er ein Gegengewicht zu den extremeren islamistischen Bewegungen darstellen sollte.[3][8] Während dieser Zeit konvertierten zahlreiche radikale Dschihadisten zum Madchalismus, insbesondere in der salafistischen Hochburg Buraida.

Später prangerten jedoch zahlreiche hochrangige religiöse Persönlichkeiten Saudi-Arabiens den Madchalismus an; so gab es direkte Kritik seitens des saudi-arabischen Großmuftis und Mitglieds des Ständigen Komitees für Rechtsfragen, ʿAbd al-ʿAzīz Āl asch-Schaich. Daraufhin verlor die Bewegung schnell ihre Unterstützung innerhalb der arabischen Welt und ihren Einfluss in Saudi-Arabien.[5] In den frühen 2010er-Jahren gründete sich ein madchalistischer Zweig im Westen Kasachstans, obwohl die kasachische Regierung Islamisten eher misstrauisch gegenüber steht.[9] Ungeachtet dessen haben westliche Analysten die Bewegung als hauptsächlich nach Europa verdrängt bezeichnet.[5][10] In den Niederlanden sollen beispielsweise die Madchalisten mit ihren Familien bereits über die Hälfte der Salafisten ausmachen.[11]

Muhammad al-Madchalī (dem Bruder von Rabīʿ al-Madchalī und einer der führenden Köpfe der Bewegung) gegenüber loyale Islamisten zerstörten am 24. August 2012 Sufi-Schreine in der libyschen Stadt Zliten mit Baumaschinen und Planierraupen.[12] Diese Handlung wurde von 22 Nichtregierungsorganisationen, dem Minister für religiöse Angelegenheiten des Libyschen Nationalen Übergangsrates, Hamza Abu Faris (حمزة أبو فارس), sowie der UNESCO-Generaldirektorin Irina Bokowa scharf verurteilt.[13][14] Der Nationale Übergangsrat Libyens reichte bei der saudi-arabischen Regierung eine Beschwerde gegen Muhammad al-Madchalī ein.[15] Im seit 2014 anhaltenden libyschen Bürgerkrieg sind Madchalisten weiterhin sowohl auf der Seite des GNA als auch der LNA aktiv[16].

Der Madchalismus wird oft mit dem Wahhabismus verglichen, wobei beide teils die gleichen Dogmen anderer Bewegungen übernommen haben.[3] Medienanalysten haben wegen ihrer Differenzen untereinander generell vor der Gleichsetzung oder Verallgemeinerung solcher islamistischer Bewegungen gewarnt.

Während sich andere Gruppierungen des Islamismus oftmals diktatorischen Regierungen im Mittleren Osten widersetzen, wird die Madchalismus-Bewegung von diesen Regimes offenkundig unterstützt.[6][11][17][18] Obwohl sie mit anderen salafistischen und islamistischen Gruppen gleichgesetzt werden, sind die Madchalisten besonders wegen ihrer Rivalitäten mit den salafistischen Dschihadisten und ihres Widerstandes gegen diese bekannt. Der Madchalismus wird als quietistisch und politisch inaktiv beschrieben. So unternimmt er im Gegensatz zu den meisten Salafismus-Bewegungen keine organisierten politischen Anstrengungen und geht sogar so weit, diejenigen, die an modernen politischen Systemen partizipieren, zu Abtrünnigen oder gar zu Apostaten zu erklären.[11][19] Die politisch aktiven Salafisten werden von Anhängern des Madchalismus oft als Teil einer internationalen Verschwörung gegen den „echten Salafismus“ interpretiert.[5] Andererseits gewähren westliche Geheimdienstbehörden beispielsweise der Vereinigten Staaten von Amerika sowohl einigen madchalistischen Vereinigungen als auch weiteren salafistischen Bewegungen finanzielle Unterstützung.[20]

Die Interaktion mit nichtmuslimischen Gesellschaften, unter denen die meisten Madchalisten leben, stellt ebenfalls einen Unterschied gegenüber anderen islamistischen Bewegungen dar. Während die meisten Salafisten sich vom westlichen Umfeld abgrenzen, halten Madchalisten zumindest minimalen Kontakt mit nichtmuslimischen Kreisen.[11] Sie zeigen auch kein Interesse, Nichtmuslime zum Islam zu konvertieren, und begnügen sich mit der Akzeptanz und dem Schutz ihrer Rechte als Minderheit.[11]

Die Polemik der Madchalisten unterscheidet sich ebenfalls stark von derjenigen anderer salafistischer Gruppierungen. Ein typisches Merkmal soll zum Beispiel sein, den Gegner anzugreifen, anstatt den Diskurs zum eigentlichen Diskussionsthema zu führen.[17] Dem Führer der Bewegung, Rabīʿ al-Madchalī, kommt im Gegensatz zu rivalisierenden Bewegungen wie dem Qutbismus eine zentrale Rolle zu. Generell wird den Madchalisten ein besonderer Eifer bei der Verteidigung ihres Führers zugeschrieben. Lob seitens salafistischer Gelehrter wird entweder dramatisiert oder überhöht. Zudem wird versucht, Salafisten mit abweichenden Ansichten zu unterdrücken und einzuschüchtern.[5] Streng verboten ist ein Hinterfragen der madchalistischen Kleriker, das nur im absoluten Notfall erlaubt werden kann.[21]

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Omayma Abdel-Latif: Trends in Salafism. In: Michael Emerson, K. Kausch, R. Youngs (Hrsg.): Islamist Radicalisation. The Challenge for Euro-Mediterranean Relations. CEPS & FRIDE, Brüssel, Madrid 2009, ISBN 978-92-9079-865-1, S. 69–86.
  2. The Muslim 500 : Sheikh Rabee Ibn Haadi ‘Umayr Al Madkhali. Abgerufen am 2. Januar 2014.
  3. a b c Saudi Arabia Backgrounder: Who Are The Islamists? ICG Middle East Report. Nr. 31. Amman, Riad, Brüssel 21. September 2004 (pbs.org [PDF]).
  4. Roel Meijer: Global Salafism. Islam's New Religious Movement. New York 2009, ISBN 978-0-231-15420-8, S. 33–51.
  5. a b c d e Roel Meijer: Politicising al-jarḥ wa-l-taʿdīl. Rabīʿ b. Hādī al-Madchalī and the transnational battle for religious authority. In: Sebastian Günther, W. Kadi (Hrsg.): Islamic History and Civilization. Band 89. Brill, Leiden, Boston 2011, ISBN 978-90-04-20389-1, S. 375–399.
  6. a b Omar Ashour: Libyan Islamists unpacked: rise, transformation, and future: Policy Briefing. Doha Mai 2012.
  7. Sherifa Zuhur: Decreasing Violence in Saudi Arabia and Beyond. In: Thomas M. Pick et al. (Hrsg.): Home-Grown Terrorism. Understanding and Addressing the Root Causes of Radicalisation Among Groups with an Immigrant Heritage in Europe. IOS, Amsterdam 2009, ISBN 978-1-60750-075-9, S. 74–98.
  8. Hossam Tammam, P. Haenni: Islam in the insurrection? In: Al-Ahram Weekly. Nr. 1037. Kairo 2011 (ahram.org.eg (Memento vom 29. Oktober 2013 im Internet Archive)).
  9. Almaz Rysaliev: West Kazakstan under growing Islamic influence. In: Reporting Central Asia No. 653. 5. September 2011, abgerufen am 15. Juli 2015.
  10. Samir Amghar: Salafism and Radicalisation of Young European Muslims. In: Samir Amghar et al. (Hrsg.): European Islam. Challenges for Society and Public Policy. Brüssel 2007, ISBN 978-92-9079-710-4, S. 38–51.
  11. a b c d e Martijn de Koning: The 'Other' Political Islam. Understanding Salafi Politics. In: Olivier Roy, A. Boubekeur (Hrsg.): Whatever Happened to the Islamists? Salafis, Heavy Metal Muslims and the Lure of Consumerist Islam. Hurst, London 2012, ISBN 978-1-85065-941-9, S. 153–175.
  12. Extremists demolish Libya's shrines using bulldozers, explosives. In: France 24. 29. August 2012, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 31. August 2012; abgerufen am 15. Juli 2015.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/observers.france24.com
  13. Essam Mohamed: Libyan salafists destroy Sufi shrines. 27. August 2012, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 5. November 2012; abgerufen am 15. Juli 2015.
  14. UNESCO Director-General calls for an immediate halt to destruction of Sufi sites in Libya. In: UNESCO Media Services. 28. August 2012, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 3. Februar 2016; abgerufen am 15. Juli 2015.
  15. Jamie Dettmer: Ultraconservative Salafists Destroy Sufi Landmarks in Libya. 4. September 2012, abgerufen am 15. Juli 2015.
  16. Addressing the Rise of Libya’s Madkhali-Salafis, ICG, Report Nr. 200, 25. April 2019
  17. a b Richard Gauvain: Salafi Ritual Purity. In the Presence of God. Routledge, Abingdon, New York 2013, ISBN 978-0-7103-1356-0, S. 33–52.
  18. Hani Nasira: Salafists Challenge al-Azhar for Ideological Supremacy in Egypt. In: Terrorism Monitor, Jg. 8, Nr. 35. The Jamestown Foundation, 16. September 2010, abgerufen am 15. Juli 2015.
  19. Abdullah Babood: Political Islam in the Gulf Region. In: George Joffé (Hrsg.): Islamist Radicalisation in Europe and the Middle East. Reassessing the Causes of Terrorism. Tauris, London 2013, ISBN 978-1-84885-480-2, S. 300–337.
  20. Jarret M. Brachman, W. F. McCants: Stealing Al Qaeda's Playbook. In: Studies in Conflict & Terrorism. Jg. 29, Nr. 4, 2006, ISSN 1057-610X, S. 309–321 (usma.edu [PDF]).
  21. Roel Meijer: The Problem of the Political in Islamist Movements. In: Olivier Roy, A. Boubekeur (Hrsg.): Whatever Happened to the Islamists? Salafis, Heavy Metal Muslims and the Lure of Consumerist Islam. Hurst, London 2012, ISBN 978-1-85065-941-9, S. 27–60.