Medikalisierung – Wikipedia

Medikalisierung ist die Bezeichnung für einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess, bei dem menschliche Lebenserfahrungen und Lebensbereiche in den Fokus systematischer medizinischer Erforschung und Verantwortung rücken, die vorher außerhalb der Medizin standen. Dieser wurde vor allem seit Mitte des 18. Jahrhunderts beobachtet und beschrieben, ist aber auch heute noch festzustellen. Das Konzept geht maßgeblich auf Ivan Illich zurück.[1]

In der Medizingeschichte wird der Begriff der Medikalisierung meist deskriptiv, also ohne Wertung, gebraucht. In ihm kommt aber auch eine grundlegende Kritik an einem Fortschritt- und Machbarkeitsglauben innerhalb der Naturwissenschaften zum Ausdruck. Als Ursache und treibende Kraft hinter diesen Veränderungen wird aber ein Zusammenspiel von allen Beteiligten des Gesundheitssystems – also auch von Patienten und konkurrierenden Heilberufen – gesehen: mit dem Ziel, die bestmögliche Versorgung der Bevölkerung zu erreichen.

Beispiele für Medikalisierungstendenzen:

  • die Pathologisierung von Befindlichkeitsstörungen und Angelegenheiten, die auch von vielen sozialen Faktoren bestimmt sind (z. B. sexuelle Unlust, Kinderlosigkeit) und deren medizinische Behandlung
  • der weibliche Körper, insbesondere seine Sexualität (durch spezifische Wissensproduktion und Regularien über Menstruation, Schwangerschaft, Geburt[2] und Menopause)[3]
  • das zunehmende Angebot medizinischer Dienstleistungen für eine „Optimierung“ der Lebensführung statt nur die Behandlung von Leiden (z. B. Anti-Aging-Medizin, kosmetische Chirurgie)
  • die Tendenz zur Verantwortungsübertragung an Ärzte und das Gesundheitswesen, sowie die (Selbst-)Entmündigung der Menschen bei leichten Beschwerden, Fragen des Wohlbefindens und bei natürlichen Lebensphänomenen (Geburt, Tod)
  • Michel Foucault: Die Geburt der Sozialmedizin, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 3: 1976–1979. Frankfurt 2003, S. 272–298.
  • Ivan Illich: Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens. Beck, München 1995, ISBN 3-406-39204-0
  • Roy Porter: The patient’s view. Doing medical history from below. Theory and Society 14 (1985) 175–198
  • Michael Stolberg: Heilkunde zwischen Staat und Bevölkerung. Angebot und Annahme medizinischer Versorgung in Oberfranken im frühen 19. Jahrhundert. Diss. med. TU-München 1986
  • Michael Stolberg: Die Geschichte der Palliativmedizin. Medizinische Sterbebegleitung von 1500 bis heute. Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-940529-79-4, S. 258–261 (Medikalisierung).
  • Francisca Loetz: Vom Kranken zum Patienten. „Medikalisierung“ und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750–1850. Stuttgart 1993 (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Beiheft 2).
  • Sami Timimi: Pathological Child Psychiatry and the Medicalization of Childhood, Brunner-Routledge, 2002, ISBN 1-58391-216-9
  • Irving Kenneth Zola: Gesundheitsmanie und entmündigende Medikalisierung, in: Illich, Ivan U. a., Entmündigung durch Experten, Reinbek bei Hamburg 1979
  • „Kampf ums Herz – Neoliberale Reformversuche und Machtverhältnisse in der ‚Gesundheits-Industrie‘“, Themenheft der Zeitschrift „Widersprüche“, Heft 94, 2004.
  • Peter Conrad: The Medicalization of Society: On the Transformation of Human Conditions into Treatable Disorders. Johns Hopkins University Press, Baltimore 2007

Einzelnachweise

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  1. Ivan Illich: Medical nemesis : the expropriation of health, London : Calder & Boyars, 1975.
  2. Hans-Christoph Seidel: Eine neue ‚Kultur des Gebärens‘: die Medikalisierung von Geburt im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland. (Phil. Dissertation Bielefeld) Franz Steiner, Stuttgart 1998 (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 11), ISBN 3-515-07075-3.
  3. Krüger-Fürhoff, Irmela Marei: Körper, in: Christina von Braun u. Inge Stephan (Hg.): Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien. Köln u. a. 2009, 66–81, hier 68.