Nicholson Baker – Wikipedia

Nicholson Baker (2013)

Nicholson Baker (* 7. Januar 1957 in New York) ist ein US-amerikanischer Schriftsteller. Er ist sowohl als Romancier als auch als Essayist bekannt. Seine Bücher liegen in deutscher Übersetzung, vorwiegend bei Rowohlt, vor. Die Jury des Calwer Hermann-Hesse-Preises bezeichnete Baker anlässlich der Preisverleihung 2014 als „großen Beschreibungs- und Benennungskünstler der US-Gegenwartsliteratur“.[1]

Nicholson Baker wuchs in Rochester auf, studierte zunächst Musik an der dortigen Eastman School of Music und danach von 1975 bis 1979 englische Literaturwissenschaft am Haverford College. Er ist seit 1985 mit seiner Frau Margaret verheiratet und hat eine Tochter und einen Sohn. Er lebt mit seiner Familie in South Berwick, Maine.

Baker schreibt unter anderem für die Zeitschriften The New Yorker, The Atlantic Monthly, The New York Review of Books und Esquire.

1991 veröffentlichte er den Essay U and I : A True Story, eine Hommage an sein literarisches Vorbild John Updike. Weitere Essays erschienen 1996 unter dem Titel The Size of Thoughts : Essays and Other Lumber; in der deutschen Veröffentlichung von 1998 sind beide Titel in einem Band zusammengefasst, wobei allerdings Lumber, der mit über 130 Seiten umfangreichste Essay aus The Size of Thoughts, weggelassen wurde.

Schon sein erster Roman Rolltreppe oder Die Herkunft der Dinge setzt die Standards für Bakers späteres Werk: Hier reflektiert ein Angestellter während eines Arbeitstages vor allem über gewöhnliche Gegenstände. Ihm sind innerhalb eines Tages zwei Schnürsenkel gerissen, und schon kommt eine Denklawine ins Rollen, die vor nichts Halt macht. Plastiktrinkhalme, Eisschalen, die Kunst, eine Serviette in einen Mülleimer zu werfen, ohne den Deckel mit der eigenen Haut berühren zu müssen – vor allem die oberflächlich unwichtigen Dinge haben es dem Protagonisten Howie und wohl auch seinem Autor angetan. Baker verzichtet, abgesehen vom Tagesablauf, fast völlig auf Handlungs- und Erzählstränge, stattdessen unterbricht er den Fluss durch teils aberwitzige Fußnoten; Baker lässt die Dinge scheinbar laufen, dies aber äußerst kunstvoll und mit viel Humor, den Eike Schönfeld ins Deutsche gerettet hat. Exemplarisch ist dieser Erstling, weil Baker schon hier bewies, dass er „wunderbare in ihre Gegenstände vernarrte und zugleich in ihrer Besessenheit durchgeknallte Bücher über Rolltreppen, Babynasen, Telefonsex, Zündhölzer und, ja doch, Kriegstreiber“[2] schreiben kann.

In seinem Roman Vox (1992) schildert er den Telefonsex zwischen einem Mann und einer Frau. Das Buch besteht aus einem einzigen langen Dialog und handelt von erotischen Phantasien, die mit einem unbekannten Partner verbal ausgelebt werden. In der Lewinsky-Affäre spielte das Buch eine Rolle, weil Lewinsky es angeblich Bill Clinton geschenkt hatte. Der Sonderermittler Kenneth Starr versuchte deswegen eine Verfügung gegen zwei Buchhandlungen zu erwirken, die ihre Kundendaten herausgeben sollten. Dies wurde von Baker öffentlich kritisiert.[3]

Die Fermate (1994) erzählt vom Akademiker und Zeitarbeiter Arno Strine, der die Gabe hat, wann immer er will den Fluss der Zeit anzuhalten. Anstatt die so entstehenden Zeitlücken für die tatsächlich kreativen Aktivitäten zu nutzen, die seine geistige Kapazität durchaus hergeben würde, beschränkt er sich darauf, in immer neuen Variationen Frauen – ihm bekannten Frauen und auch wildfremden – anonym und ungebeten surreale erotische Erlebnisse zu verschaffen.

Viel beachtet wurde sein Sachbuch Double Fold (2001, deutsch: Der Eckenknick), eine Streitschrift gegen das Vernichten von Originalen mikroverfilmter Bestände durch Bibliotheken in den USA. Der Titel spielt auf die Faustregel an, dass nach nur zweimaligem Knicken der Ecke einer Seite eines Buches oder einer Zeitung der Erhaltungszustand des Mediums erkennbar sei. Um Zeitungen vor der Makulierung zu retten, gründete er das gemeinnützige American Newspaper Repository, kaufte seit 1999 umfangreiche Bestände auf und bewahrte sie in einem Lagerhaus auf. Die Sammlung wurde im Frühjahr 2004 an die Bibliothek der Duke University übergeben.[4]

In seinem Roman Checkpoint (2004) beschreibt Baker einen geplanten Mordanschlag auf den amtierenden Präsidenten der USA, George W. Bush, während des Wahlkampfs, was in den USA eine ethische Debatte auslöste.[5] In dem Buch wendet sich Baker erstmals politischen Themen wie dem Irakkrieg zu.

Sein Buch Human Smoke (2008) über den Zweiten Weltkrieg erregte in den USA und England starkes Aufsehen[6], weil es antisemitische Tendenzen und eine Mitschuld am Entstehen und Verlauf des Zweiten Weltkrieges bei den Führungspersönlichkeiten der westlichen Alliierten (Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt) unterstellt bzw. durch zeitgenössische Quellen zu belegen sucht (Revisionismus, Kriegsschuldfrage).[7]

In seinem Essay The Charms of Wikipedia erklärt Baker, wie er sich vom begeisterten Nutzer in einen zeitweilig geradezu süchtigen Wikipedia-Autor verwandelte: „Was mich schließlich ganz und gar hineinzog, war der Versuch, Artikel vor dem Löschen zu retten.“[8] Mit Presse-Zitaten und Recherchen kämpfte Baker zeitweise für den Erhalt eines vermeintlich randständigen Wissens in der Wikipedia.

Im Roman The Anthologist (2009) reflektiert ein nicht mehr ganz junger, aber fast unbekannter Autor, dessen Schreib- und Liebeskarriere nach eigenem Urteil gerade floppt, beim Verfassen einer Poesie-Anthologie über poetische und persönliche Probleme.

Das Buch House of Holes : A Book of Raunch (2011, deutsch: Haus der Löcher) handelt auf humorvolle, verspielte Art von „Pornographie“, von allen erdenklichen Spielarten erwachsener sexueller Praktiken und Phantasien.[9][10] Das Werk ist weniger ein Roman, sondern eher eine Sammlung von thematisch verwandten, ineinander verschränkten Einzelerzählungen oder Novellen.

Im September 2013 gab es unter dem Titel Travelling Sprinkler (deutsch: Das Regenmobil, 2016) die Fortsetzung zu The Anthologist um die kauzige Hauptfigur Paul Chowder. Baker schildert darin u. a., wie Paul die Musik für sich wiederentdeckt und die Rolle seines Instrumentes, des Fagotts, sowie musikalischer Strukturelemente in der Klassik. Er beschließt, anstelle von Gedichten künftig Pop- und Protestsongs zu verfassen, und rüstet sich mit der entsprechenden digitalen Soft- und Hardware zur Eigenproduktion tanzbarer Stücke aus. Versuche mit Tabak als Neurostimulans, Reflexionen über den U.S.A.-Drohnenkrieg, Besuche im Sportstudio und bei der Quäkerandacht, Musikmeditationen im Auto sowie die fürsorgliche Sehnsucht nach der verflossenen Rosslyn ergänzen den musikalischen Rundumschlag. Die titelgebende Sammlung historischer und beweglicher Rasensprenger übersteht den Zusammenbruch seiner literarischen Kreativscheune nur knapp.[11]

Zuvor in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichte Essays erschienen 2015 gesammelt unter dem Titel So geht's.

Baseless. My Search for Secrets in the Ruins of the Freedom of Information ACT (2020) enthält eine Chronik und Resultate einer jahrelangen Suche nach Geheimdokumenten der amerikanischen Regierung aus den 1950er Jahren (u. a. Korea-Krieg).

Parallel zur Arbeit an Travelling Sprinkler veröffentlichte der Autor 2012 in der Zeitschrift The New Yorker und auf der Plattform YouTube einen eigenen Song mit dem Titel Jeju Island. Es handelt sich um einen melancholischen Sprechgesang mit Klavierbegleitung, in dem Baker die geplante militärstrategische Nutzung der Insel Jeju im ostchinesischen Meer durch Südkorea und die USA sowie die Beteiligung des koreanischen Medienkonzerns Samsung beklagt. Weitere Songs folgten.[12] Das Lied A Whistleblower song ist der US-Armeeangehörigen Branning gewidmet. Die Struktur der Lieder ähnelt den Kompositionsrezepten, die Paul Chowder (die Hauptfigur in Anthologist und Traveling Sprinkler) bei seinen versunkenen kathedralen Meditationen (Claude Debussy) im Kia Rio entwickelt und im Tabak- und Erdnussbuttercrackerrausch auf seiner „Logic“-softwaregestützten E-Klaviatur zum Besten gibt.

Baker selbst beschrieb seine Motivation und die Entstehung der Vier Protestsongs im New Yorker.[13]

In deutscher Übersetzung
Bislang noch nicht übersetzte Originalausgaben
  • Subsoil. Short Story, erschienen in: The New Yorker, 27. Juni 1994[21]
  • Substitute. Going to School with a Thousand Kids. Blue Rider Press, 2016, ISBN 978-0-399-16098-1
  • Baseless. My Search for Secrets in the Ruins of the Freedom of Information ACT. Penguin Press, 2020, ISBN 978-0-7352-1575-7
  • Arthur Saltzman: Understanding Nicholson Baker. University of South Carolina Press, Columbia 1999, ISBN 1-57003-303-X.
Commons: Nicholson Baker – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Internationaler Hermann-Hesse-Preis 2014 an Nicholson Baker auf www.hermann-hesse.de am 11. März 2014.
  2. Jochen Jung: Liebe geht durch den Vers. Nicholson Baker schwärmt von der angloamerikanischen Lyrik. In: Die Zeit, 18. März 2010.
  3. Novelist Nicholson Baker and booksellers attack Kenneth Starr as a ‘Stalker’. (Memento vom 2. Dezember 1999 im Internet Archive) Salon.com, 3. April 1998.
  4. Our Collection Has Moved to Duke University. (Memento vom 7. März 2014 im Internet Archive) März 2004.
  5. Christian Mariotte: In unmittelbarer Nähe. Rezension bei literaturkritik.de.
  6. Paul Holdengraber, New York Public Library: Nicholson Baker: Human Smoke, Interview mit Simon Winchester. In: c-span. 20. März 2008, abgerufen am 10. April 2022 (englisch).
  7. Charlie Rose: Nicholson Baker. In: Charlie Rose. 7. November 2008, abgerufen am 10. April 2022 (englisch).
  8. Nicholson Baker: The Charms of Wikipedia. In: The New York Review of Books, 4. März 2008. Gekürzte dt. Fassung: Unlöschbar machen. In: Süddeutsche Zeitung, 5./6. April 2008, S. 16.
  9. Elane Blair: Coming Attractions. In: The New York Review of Books, September 2011.
  10. Ein Besuch beim Autor. In: Deutschlandradio, 15. Januar 2012.
  11. Jörg Magenau: Nicholson Baker: „Das Regenmobil“. Stereoaufnahmen als Offenbarung. In: Deutschlandradio, 19. Dezember 2015.
  12. Jeju Island (2012), Terrormaker (2012), When you intervene (2014), Nine Women Gathering Firewood (2014), Whistleblower song (2014).
  13. Nicholson Baker: Four protest songs. In: The New Yorker. Oktober 2012 (newyorker.com [abgerufen am 14. Februar 2017]).
  14. Michael Rutschky: Finger weg! Nicholson Baker macht sich ausführliche Sorgen über die Vernichtung von bedrucktem Papier. Rezension in: Frankfurter Rundschau, 19. Oktober 2005.
  15. Gustav Seibt: Menschen mögen Krieg. Rezension in: Süddeutsche Zeitung, 3. März 2009.
  16. Volker Sielaff: Speed ist nicht zu empfehlen. Rezension in: Der Tagesspiegel, 21. Februar 2010.
  17. Verena Lueken: Es ist genug Lust für alle da. Rezension in: FAZ, 13. Januar 2012.
  18. Jörg Plath: Sinnliches Abenteuer. Rezension in: Deutschlandradio, 8. Februar 2012.
  19. Blütenlese im Alltag. In: Deutschlandradio Kultur, 19. Dezember 2014.
  20. Meditationen gegen das Verschwinden. In: taz, 24. Januar 2015.
  21. Nicholson Baker: Subsoil auf newyorker.com.