Paul Gleirscher – Wikipedia

Paul Gleirscher (* 7. Oktober 1960 in Neustift im Stubaital) ist ein österreichischer Ur- und Frühgeschichtler.

Gleirscher studierte Ur- und Frühgeschichte und Klassische Archäologie in Innsbruck und München. Er wurde 1984 in Innsbruck promoviert. Nach Forschungsaufträgen auf Schloss Tirol, bei der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts (Projekt Brandopferplatz Rungger Egg bei Seis am Schlern) und am Institut für Denkmalpflege an der ETH Zürich (Projekt Kloster St. Johann in Müstair) sowie der Erstellung einer Wanderausstellung über die Räter im Auftrag des Rätischen Museums Chur ist er seit 1991 Leiter der Abteilung für Ur- und Frühgeschichte am Landesmuseum Kärnten in Klagenfurt, einer Abteilung, die damals neu eingerichtet wurde. Von dort aus war er an den Universitäten Klagenfurt, Graz und Wien tätig, wo er sich 1998 im Fach Ur- und Frühgeschichte habilitierte und bis 2014 Vorlesungen und Exkursionen abhielt. Im Sommersemester 2008 war er Gastprofessor am Institut für Archäologie an der Universität Graz.

Gleirschers Forschungsschwerpunkt ist der Ostalpenraum von der Altsteinzeit bis in das Frühmittelalter. Beginnend mit dem Thema seiner Dissertation wandte er sich zunächst der jüngeren Eisenzeit im Alt-Tiroler Raum und in den angrenzenden Gebieten zu, wo er zur Gruppengliederung der den Rätern zugewiesenen Stämme forschte, insbesondere zur Typenchronologie und zur Definition der heute gängigen Kulturgruppen der Räter: der Fritzens-Sanzeno-Gruppe in Nordtirol, Osttirol und Südtirol bis ins Trentino, der Magrè-Gruppe in den Lessinischen Alpen und der Valcamonica-Gruppe in den lombardischen Südalpentälern westlich des Gardasees. Die Fortführung und Vertiefung dieser Studien erfolgte mit der Bearbeitung des Brandopferplatzes am Rungger Egg bei Seis am Schlern (Südtirol), die zugleich zur ersten breiten Analyse der für den zentralalpinen Raum seit der mittleren Bronzezeit typischen Brandopferplätze und daran anknüpfende Fragen zur alpinen Religionsgeschichte führte. Die Beschäftigung mit den vorklosterzeitlichen Funden und Befunden in Müstair-St. Johann umfasste die Zeitspanne von der Kupferzeit bis ins Frühmittelalter. Mit Fragen der Christianisierung und Bajuwarisierung verknüpft waren Studien zu Säben und zu verschiedenen Kirchengrabungen in Südtirol unter der Leitung von Hans Nothdurfter, darunter St. Georg in Völlan, St. Cosmas und Damian in Siebeneich und St. Prokulus in Naturns. Zu den frühesten wissenschaftlichen Arbeiten von Gleirscher zählen außerdem Studien zur Nutzung des hochalpinen Raumes, sei es zu kultischen Zwecken oder zur Nutzung als Weideland („Almwirtschaft“). So betonte er seit dessen Auffindung, dass es sich beim „Mann aus dem Eis“ (Ötzi) keineswegs um einen Hirten handeln könne, sondern vielmehr um einen lokalen Anführer, zu dessen mehrstufigen Ermordung er sich zuletzt in Form einer Synthese verschiedener naturwissenschaftlicher und archäologischer Daten geäußert hat.

Mit dem Wechsel nach Kärnten wandte sich Gleirscher zunächst der Erforschung der dortigen, längst überregional bekannten Hallstattkultur zu. Er konnte zeigen, dass sich die Hügelgräberfelder mitsamt den zugehörigen Höhensiedlungen qualitativ und quantitativ gliedern lassen und sich wiederholt in ihrer Bedeutung und Bestandszeit voneinander abheben. Während der älteren Hallstattkultur erwies sich Frög mit dem Burgberg von Rosegg als zentraler Siedlungsort im Kärntner Raum, der um die Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. vom Lamprechtskogel bei Mittertrixen mit den Königsgräbern von Waisenberg und dem Adelsfriedhof von Führholz abgelöst wurde. Nach dessen Ende zwischen 300 und 250 v. Chr. errichteten die aus dem Donauraum zugewanderten Kelten auf der Gracarca am Klopeiner See das neue Herrschaftszentrum in Kärnten, vermutlich die sagenumwobene Stadt Noreia. Darüber hinaus wandte sich Gleirscher der Erforschung aller anderen Perioden der Ur- und Frühgeschichte Kärntens zu, vom Lagerplatz der Neandertaler in der Griffener Tropfsteinhöhle über Fragen nach den ersten bäuerlichen Siedlungen im Ostalpenraum und den Pfahlbauten der Kupferzeit, speziell jenem im Keutschacher See, zu Fragen zur Deutung der mittel- und spätbronzezeitlichen Hortfunde – in deren Rahmen er auch eine völlig unorthodoxe Sichtweise auf die Himmelsscheibe von Nebra vorgelegt hat – bis hin zu einer ersten archäologischen Synthese zum frühmittelalterlichen Fundstoff in Kärnten, Osttirol und der Obersteiermark, dem damaligen slawischen Fürstentum Karantanien, wobei Fragen der Kontinuität des christlichen Glaubens bzw. der Christianisierung der Slawen ebenso eine besondere Rolle zukam wie der Frage nach frühmittelalterlichen Befestigungsanlagen, etwa der Karnburg im Zollfeld. Die gemeinsam mit Peter Gamper auf der Gurina bei Dellach im Gailtal durchgeführten Ausgrabungen und Forschungen erbrachten zudem neue Erkenntnisse zur Romanisierung des Ostalpenraumes, die in weiterer Folge mit den gängigen Daten für den Magdalensberg abzugleichen waren, die sich in vielen Punkten als unhaltbar erwiesen. Studien zur Interpretation der Bildgeschichten der Kalenderbergkultur sowie der Situlenkunst sollen abschließend ebenso kurz erwähnt sein wie zu religionsgeschichtlichen Fragen, die an die Ausgrabungen in der Durezza-Schachthöhle über Warmbad Villach, an den Waffenweihefund am Förker Laas-Riegel über Nötsch im Gailtal sowie an die Mithras-Kulthöhle bei St. Egyden anknüpfen.

Als Leiter der Abteilung für Ur- und Frühgeschichte am Landesmuseum für Kärnten erneuerte Gleirscher die Räumlichkeiten zur Ur- und Frühgeschichte im Landesmuseum für Kärnten und führte zahlreiche Ausgrabungen in Kärnten durch.

Mitgliedschaften

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Gleirscher ist in verschiedenen Expertengruppen tätig, so seit 1998 im Beirat des Südtiroler Archäologiemuseums und seit 2012 im österreichischen Kuratorium für Pfahlbauten im Rahmen des UNESCO-Welterbes Prähistorische Pfahlbauten um die Alpen. Er ist seit 2002 Leiter der Sektion 1 („Ur- und Frühgeschichte“) beim Verband österreichischer Historiker und Geschichtsvereine (Wien) und seit 2003 Redaktionsmitglied der Zeitschrift Arheološki vestnik, herausgegeben vom Institut für Archäologie an der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Laibach/Ljubljana.

1998 wurde Gleirscher zum Korrespondierenden Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts in Berlin gewählt und erhielt im selben Jahr den Förderungspreis für Wissenschaft des Landes Kärnten zugesprochen. 2014 wurde er zum Korrespondierendes Mitglied des Istituto Italiano di Preistoria e Protostoria (Italienisches Institut für Ur- und Frühgeschichte) in Florenz gewählt, 2015 zum Korrespondierenden Mitglied der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Ljubljana/Laibach.[1]

Schriften (Auswahl)

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  • Die Räter / I Reti. Rätisches Museum, Chur 1991.
  • als Herausgeber mit Ingrid R. Metzger: Die Räter / I Reti (= Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Alpenländer. Neue Folge). Athesia, Bozen 1992, ISBN 88-7014-646-4.
  • mit Hans Rudolf Sennhauser u. a.: Müstair, Kloster St. Johann 1: Zur Klosteranlage. Vorklösterliche Befunde (= Veröffentlichungen des Instituts für Denkmalpflege an der ETH Zürich. Band 16,1). Hochschul-Verlag an der ETH, Zürich 1996, ISBN 3-7281-2272-6.
  • Die Keltensiedlung auf der Gracarca. Eine archäologisch-historische Spurensuche um den Klopeiner See mit Ausblicken auf den Kärntner Raum und bis ins Mittelalter. Eigenverlag des Wissenschaftlichen Vereins, St. Kanzian 1997.
  • mit Susanne Fabrizii-Reuer, Alfred Galik, Marion Niederhuber und Egon Reuer: Archäologische und naturwissenschaftliche Untersuchungen zur Durezza-Schachthöhle bei Warmbad Villach (Kärnten) (= Neues aus Alt-Villach / 34. Jahrbuch des Stadtmuseums). Museum der Stadt Villach, Villach 1997.
  • Karantanien. Das slawische Kärnten. Carinthia, Klagenfurt 2000, ISBN 3-85378-511-5.
  • mit Hans Nothdurfter und Eckehart Schubert: Das Rungger Egg. Untersuchungen an einem eisenzeitlichen Brandopferplatz bei Seis am Schlern / Südtirol (= Römisch-Germanische Forschungen. Band 61). Philipp von Zabern, Mainz 2002, ISBN 3-8053-2826-5.
  • mit Hanns Oberrauch: Göttersache’n. Kult zu Ötzis Zeit / In dono agli dei. Culti al tempo di Ötzi. Bozen 2002.
  • als Herausgeber mit Franco Marzatico: Guerrieri, Principi ed Eroi fra il Danubio e il Po dalla Preistoria all’Alto Medioevo. Ausstellungskatalog Trento 2004. Provincia Autonoma di Trento, Trento 2004, ISBN 88-900909-2-8.
  • mit Wilhelm Deuer, Harald Krahwinkler, Peter G. Tropper und Manfred Wassermann: St. Daniel. Zur Geschichte der ältesten Pfarre im oberen Gailtal und Lesachtal. Festschrift zur 950-Jahr-Feier der Pfarrkirche St. Daniel 1054–2004. Dellach im Gailtal 2004, ISBN 3-902128-36-4.
  • Ertauchte Geschichte. Zu den Anfängen von Fischerei und Schifffahrt im Alpenraum. Katalog zur Sonderausstellung im Landesmuseum Kärnten, 5. Mai bis 3. September 2006. Landesmuseum Kärnten, Klagenfurt 2006, ISBN 3-900575-33-9.
  • mit Franz Glaser und Michael Leischner: Mystisches Kärnten. Sagenhaftes – Verborgenes – Ergrabenes. Carinthia, Klagenfurt 2006, ISBN 978-3-85378-603-1.
  • Noreia – Atlantis der Berge. Neues zu Göttin, Stadt und Straßenstation. Hermagoras, Klagenfurt 2009, ISBN 978-3-7086-0467-1.
  • als Herausgeber mit Franco Marzatico und Rupert Gebhard: Le grandi vie delle civiltà. Relazioni e scambi fra Mediterraneo e il Centro Europa dalla Preistoria alla Romanità. Ausstellungskatalog Trient 2011. Trento 2011, ISBN 978-8890090981.
  • Die Hügelgräber von Frög. Ein eisenzeitliches Herrschaftszentrum in Rosegg. Hermagoras, Klagenfurt 2011, ISBN 978-3-7086-0625-5.
  • als Herausgeber mit Franco Marzatico und Rupert Gebhard: Im Licht des Südens. Begegnungen antiker Kulturen zwischen Mittelmeer und Zentraleuropa. Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg 2011, ISBN 978-3-89870-724-4.
  • mit Erwin Hirtenfelder: Mythos Magdalensberg. Pompeji der Alpen und heiliger Gipfel. Styria, Klagenfurt 2014, ISBN 978-3-7012-0161-7.
  • Keutschach und die Pfahlbauten in Slowenien und Friaul. UNESCO-Welterbestätten. Hermagoras/Mohorjeva, Klagenfurt/Ljubljana/Wien 2014, ISBN 978-3-7086-0820-4.
  • Zum frühen Siedlungsbild im oberen und mittleren Vinschgau mit Einschluß des Münstertales. In: Rainer Loose (Hrsg.): Der Vinschgau und seine Nachbarräume. Vorträge des landeskundlichen Symposiums in Schloß Goldrain 1991 (Bozen 1991), S. 35–50.
  • Räter, Rätergebiet und Rätien. In: Geschichte und Region / Storia e regione 1, 1992, S. 22–30 (Digitalisat).
  • Zum etruskischen Fundgut zwischen Adda, Etsch und Inn. In: Helvetia Archaeologia 24 (93–94), 1993, S. 69–105.
  • Brandopferplätze, Depotfunde und Symbolgut im Ostalpenraum während der Spätbronze- und Früheisenzeit. In: Peter Schauer (Hrsg.): Archäologische Forschungen zum Kultgeschehen in der jüngeren Bronzezeit und frühen Eisenzeit Alteuropas. Kolloquium Regensburg 1993. Regensburger Beiträge zur Prähistorischen Archäologie 2 (Regensburg 1996), S. 429–449.
  • Die Kelten im Raum Kärnten. Ein Forschungsstand. In: E. Jerem / A. Krenn-Leeb / J.-W. Neugebauer / Otto Helmut Urban (Hrsg.): Die Kelten in den Alpen und an der Donau. Akten des Internationalen Symposions St. Pölten 1992. Archaeolingua 1 (Budapest-Wien 1996), S. 255–266.
  • Vallis Norica – Sabiona – Prihsina. Zu territorial-politischen Fragen im Eisacktal. In: Helmut Flachenecker / Hans Heiss / Hannes Obermair (Hrsg.): Stadt und Hochstift / Città e Principato. Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 12 (Bozen 2000), S. 27–47.
  • Frühmittelalterlicher Kirchenbau zwischen Salzburg und Aquileia. Ein Diskussionsbeitrag. In: Beiträge zur Mittelalterarchäologie Österreich 22, 2006, S. 61–80.
  • Von wegen Illyrer in Kärnten. Zugleich: von der Beständigkeit lieb gewordener Lehrmeinungen. In: Jahrbuch des Landesmuseums für Kärnten. 2006, S. 13–22 (zobodat.at [PDF]).
  • Zum Bildprogramm der Himmelsscheibe von Nebra: Schiff oder Sichel? In: Germania 85, 2007, S. 23–33.
  • Sopron – Nové Košariská – Frög. Zu den Bildgeschichten der Kalenderberg-Kultur. In: Praehistorische Zeitschrift 84, 2009, S. 202–223.
  • Keltisch, frühmittelalterlich oder türkenzeitlich? Zur Datierung einfach strukturierter Wehranlagen im Südostalpenraum. In: Beiträge zur Mittelalterarchäologie Österreich 26, 2010, S. 7–32.
  • Some remarks on the Iceman: his death and his social rank. In: Prähistorische Zeitschrift 89/2, 2014, S. 40–54.
  • Die Räter / I Reti (mit Ingrid R. Metzger) (Rätisches Museum, Chur 1991, und in verschiedenen Städten der Länder der Arge Alp bis 1993)
  • Opferhöhlen der Hallstattzeit zwischen Franken und der Adria (Museum der Stadt Villach, Villach 1998 und Landesmuseum für Kärnten, Klagenfurt 1999)
  • Göttersachen. Kult zu Ötzi’s Zeit / In dono agli dei (mit Hanns Oberrauch) (Südtiroler Archäologiemuseum, Bozen 2002, und Museum der Stadt Villach, Villach 2003)
  • Guerrieri, Principi ed Eroi fra il Danubio e il Po dalla Preistoria all’Alto Medioevo (mit Franco Marzatico) (Museo del Buonconsiglio, Trento 2003)
  • Ertauchte Geschichte. Zu den Anfängen von Fischerei und Schifffahrt im Alpenraum (Landesmuseum für Kärnten, Klagenfurt 2006 und Keltenwelt Frög-Rosegg, Rosegg 2007)
  • Zu Gast bei den norischen Königen (Landesmuseum für Kärnten, Klagenfurt 2008)
  • Auf der Suche nach Noreia (Keltenwelt Frög-Rosegg, Rosegg 2010/11)
  • Le grandi vie delle culture. Relazioni e scambi fra Mediterraneo e il centro Europa dalla Preistoria alla romanità (mit Franco Marzatico und Rupert Gebhard) (Museo del Buonconsiglio, Trento 2011)
  • Im Licht des Südens. Kulturtransfer zwischen dem Mittelmeerraum und Mitteleuropa von der Vorgeschichte bis in die Römerzeit (mit Rupert Gebhard und Franco Marzatico) (Archäologische Staatssammlung, München 2011/12)
  • Kultwagen – Von der Nordsee bis zum Mittelmeer (Keltenwelt Frög-Rosegg, Rosegg 2012)
  • Das weibliche Amulett aus Frojach. Aus der langen Entwicklung vorrömischer Heilszeichen (Keltenwelt Frög-Rosegg, Rosegg 2013)
  • 150 Jahre Pfahlbau Keutschacher See. UNESCO-Welterbe (Keltenwelt Frög-Rosegg, Rosegg 2014)

Einzelnachweise

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  1. Mitgliedseintrag zu Paul Gleirscher auf der Website der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste, abgerufen am 17. September 2024.