Phenprocoumon – Wikipedia

Strukturformel
Struktur von (±)-Phenprocoumon
1:1-Gemisch aus (R)-Form (oben)
und (S)-Form (unten)
Allgemeines
Freiname Phenprocoumon
Andere Namen
  • (RS)-4-Hydroxy-3-(1-phenylpropyl)cumarin (IUPAC)
  • Phenprocoumonum (Latein)
Summenformel C18H16O3
Externe Identifikatoren/Datenbanken
CAS-Nummer 435-97-2
EG-Nummer 207-108-9
ECHA-InfoCard 100.006.464
PubChem 54680692
ChemSpider 10441592
DrugBank DB00946
Wikidata Q267896
Arzneistoffangaben
ATC-Code

B01AA04

Wirkstoffklasse

Antikoagulans

Wirkmechanismus

Vitamin-K-Antagonist

Eigenschaften
Molare Masse 280,32 g·mol−1
Aggregatzustand

fest

Schmelzpunkt

179–180 °C[1]

pKS-Wert

4,20[2]

Löslichkeit

sehr schlecht in Wasser (12,9 mg·l−1 bei 25 °C)[3]; löslich in Alkalihydroxid-Lösungen, in Chloroform und in Methanol[2]

Sicherheitshinweise
Bitte die Befreiung von der Kennzeichnungspflicht für Arzneimittel, Medizinprodukte, Kosmetika, Lebensmittel und Futtermittel beachten
GHS-Gefahrstoffkennzeichnung[4]

Gefahr

H- und P-Sätze H: 301+311+331​‐​361d​‐​373
P: 201​‐​280​‐​301+310+330​‐​302+352+312​‐​304+340+311[4]
Toxikologische Daten

200 mg·kg−1 (LD50Ratteoral)[3]

Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet.
Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen (0 °C, 1000 hPa).

Phenprocoumon, auch bekannt unter den Handelsnamen Marcumar und Falithrom, ist eine chemische Verbindung aus der Gruppe der 4-Hydroxycumarine, die als Arzneistoff zur Hemmung der plasmatischen Blutgerinnung (Antikoagulation) eingesetzt wird. Der Wirkstoff wurde 1953 von Alfred Winterstein mit seinem Team entwickelt und 1955 von Hoffmann-La Roche patentiert.[2]

Phenprocoumon wird im Rahmen der Langzeit-Thrombose-Prophylaxe oder -Rezidivprophylaxe (im Anschluss an eine Heparintherapie oder alternativ bei Heparinunverträglichkeit),[5] nach der Implantation künstlicher Herzklappen/künstlicher Gefäß-Bypässe (fem-pop/Y-Prothese etc.), Herzunterstützungssysteme (Assist-Device) oder bei Vorhofflimmern eingesetzt, um der Thrombusbildung und daraus resultierenden Embolien vorzubeugen.[6]

Während der Einstellungsphase mit Tabletten (à 3 mg) von etwa 5–7 Tagen wird dem Patienten jeden 2. bis 3. Tag, bei stabiler Einstellung alle 2–4 Wochen, Blut zur Kontrolle abgenommen und danach seine nächste Phenprocoumon-Dosierung festgelegt. Bei stabiler Einstellung und Eignung (körperlich und geistig dazu in der Lage) kann nach einer Schulung des Patienten dieser die regelmäßige Kontrollmessung und Anpassung der Medikamentendosis (Gerinnungsselbstmanagement) selbst durchführen. Vorgehen und Messgeräte ähneln den bekannten Zuckerselbsttests.

Die blutgerinnungshemmende Wirkung ergibt sich aus der Reduktion der Menge an verfügbaren funktionstüchtigen Gerinnungsfaktoren II, VII, IX und X. Als indirekter Vitamin-K-Antagonist wirkt Phenprocoumon wie Warfarin durch Hemmung der Carboxylierung der genannten Gerinnungsfaktoren sowie von Protein C und Protein S.[7]

Phenprocoumon wirkt als kompetitiver Inhibitor des Enzyms Vitamin-K-Epoxid-Reduktase, wodurch eine geringere Menge an Vitamin K in reduzierter Form als Cofaktor für das Enzym γ-Glutamylcarboxylase zur Verfügung steht. Nach dieser Inhibition nicht oder nur teilweise carboxylierte Gerinnungsfaktoren bleiben inaktiv oder sind nur eingeschränkt aktiv.[8] Die Wirkung setzt erst ein, wenn die noch vorhandenen Gerinnungsfaktoren verbraucht sind (nach etwa 48–72 Stunden). Daher kommt es im Notfall nicht zur Anwendung, sondern erst im weiteren Verlauf einer Erkrankung. Die Plasmahalbwertszeit beträgt circa 160 Stunden (6 bis 7 Tage).[6][9] Zusätzlich zu der verspätet eintretenden Gerinnungshemmung kann eine verstärkte Gerinnung entstehen, da die anti-koagulativen Proteine C und S, die Vitamin K-abhängig sind, gehemmt werden.[10] Von der Praxis, bei operativen Eingriffen grundsätzlich eine überbrückende Therapie [„Bridging“] mit niedermolekularen Heparinen oder unfraktioniertem Heparin durchzuführen, kommt man jedoch mehr und mehr ab. Große Beobachtungsstudien und zuletzt auch eine Placebo-Kontrollierte doppelblinde Studie haben gezeigt, dass Bridging mit einem erheblich erhöhten Blutungsrisiko verbunden ist und bezüglich thrombembolischen Ereignissen keinen Nutzen aufbringt.[11]

Die für die Wirkung maßgebliche Konzentration und ihre Schwankung ist durch den Einnahmerhythmus, das individuelle Aufnahmevermögen, die Abklingkurve und die Konstitution des Patienten bestimmt.[12] Die Halbwertszeiten liegen für die Aufnahme bei 1–12 Stunden und für das Abklingen (Eliminationshalbwertszeit) bei etwa 160 Stunden[6]. Auf Grund der – im Verhältnis zu einer täglichen Einnahme – langen Abbauzeitkonstanten tritt bei regelmäßiger Verordnung die Einhaltung des genauen täglichen Rhythmus hinter der Aufnahmedosis zurück.

Die Therapie wird (bei akuter Thrombose oder Embolie unbedingt unter gleichzeitiger Heparingabe![6][9]) meist mit einer Aufsättigungsdosis (zum Beispiel zwei Tabletten täglich für drei Tage) begonnen und in Abhängigkeit vom Ansprechen weiter dosiert. Die Tagesdosis liegt meist bei 1/4 bis 2 Tabletten, im Durchschnitt bei etwa 2/3 Tabletten. Ältere Menschen benötigen niedrigere Dosen als jüngere, Frauen etwas niedrigere als Männer.

Die Wirkung wird beeinflusst vom Vitamin-K-Gehalt der Nahrung. Ein geringer Umfang an Vitamin-K-reichen Nahrungsmitteln[13] ist deshalb wichtig für eine konstante Wirkung. Im Mittel liegen trotzdem nur etwa 70 % der Werte im therapeutischen Bereich.

Unerwünschte Wirkungen

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Sehr häufig (über 10 %) sind Hämatome nach Verletzungen, Nasenbluten oder Zahnfleischbluten sowie Blut im Urin, häufig (bis 10 %) tritt eine Leberentzündung auf, gelegentlich (unter 1 %) treten als unerwünschte Wirkung innere Blutungen (insbesondere Hirnblutungen – 0,5 %) auf.[6]

Außerdem können möglicherweise verstärkter, jedoch reversibler Haarausfall sowie eine Abnahme der Knochendichte bei langfristiger Therapie auftreten. Gefürchtet sind die schweren Blutungen, die vor allem bei Überdosierung und gleichzeitigem Bluthochdruck entstehen können (siehe Einschätzung des Blutungsrisikos).[6][9]

Sehr selten wurde eine livide (fahl-graue) Verfärbung der Haut, erythematöse Dermatitis oder eine akute Urtikaria beobachtet. Einzelne Fälle von Riechstörungen wurden beobachtet, auch die Frakturheilung kann möglicherweise länger dauern.

In sehr seltenen Fällen konnte eine Leberentzündung festgestellt werden, welche zu Leberinsuffizienz und darauffolgender Transplantation führte, ebenfalls wurden sehr selten retroperitoneale Blutung mit Beeinträchtigung von Nerven und fulminante Hautblutungen berichtet.[6]

Ebenfalls eine seltene, aber gefürchtete Komplikation der Antikoagulation mit Cumarinderivaten ist die sogenannte Cumarinnekrose, bei der es zu Nekrosen von Haut, Unterhaut und Weichteilen kommt. Besonders gefährdet sind Frauen mit Übergewicht, bei denen eine Therapie nach Beginn der Menopause (postmenopausal) und direkt nach Geburt eines Kindes (postpartal) begonnen wird.[14]

Aufhebung der Wirkung

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Nach dem Absetzen des Medikaments dauert es 10–14 Tage, bis die für eine normal funktionierende Gerinnung nötigen Gerinnungsfaktoren synthetisiert wurden. Diese Zeit kann durch die hochdosierte Gabe von Vitamin K auf 6–10 Stunden verkürzt werden, im Notfall können die fehlenden Gerinnungsfaktoren durch die Gabe eines Gerinnungsfaktorenkonzentrates (PPSB) auch kurzfristig ersetzt werden.

Vor einer Operation wird die Gerinnungshemmung meist vom schlecht steuerbaren Phenprocoumon auf besser steuerbare Heparine umgestellt. Damit kann kurz vor der Operation das Heparin pausiert werden, um zum OP-Termin eine normale Gerinnung sicherstellen zu können. Diese überbrückende Therapie mit Heparinen wird „Bridging“ genannt und beginnt mit einer Pausierung des Phenprocoumon und regelmäßigen INR-Kontrollen (INR = International Normalized Ratio). Sobald die INR unter 2 fällt, sollte mit der überlappenden Gabe von Heparinen begonnen werden. Bei Hochrisikopatienten wie z. B. bei Vorhandensein einer mechanischen Mitralklappe wird das Bridging meist stationär durchgeführt.[15]

Kontraindikationen

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Relative Kontraindikationen sind unter anderem maligne therapieresistente Hypertonie, diabetische Retinopathie, bakterielle Endokarditis, gastrointestinale Läsionen (Ulcera, Divertikel, Polypen, Tumoren, Ösophagusvarizen), Schädel-Hirn-Trauma, intracerebrale Aneurysmen, größere Operationen in den letzten zwei Wochen oder geplante Operationen in den kommenden zwei Wochen, Schwangerschaft und Alkoholismus.

Wechselwirkungen

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Phenprocoumon-Patienten sollten auf Selbstmedikation, insbesondere mit Analgetika (Schmerzmitteln) verzichten; die Einnahme von Acetylsalicylsäure ist wegen ihrer thrombozytenaggregationshemmenden Wirkung kritisch.

Mögliche Kombinationen mit Phenprocoumon:

Therapeutischer Bereich

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Im Allgemeinen wird die Dosis des Phenprocoumon über die Gerinnungswerte (alt: Quick-Wert; neu: International Normalized Ratio, INR) festgelegt. Der therapeutische INR-Wert liegt zwischen 2,0 und 3,5 je nach Indikation, fällt die INR unter den Zielbereich, dann erhöht sich das Risiko für Thrombosen oder Embolien, steigt die INR über diese Werte, dann erhöht sich die Blutungsgefahr (ab etwa INR 5 steigt die Blutungsgefahr ziemlich rasant).

Patienten, die eine dauerhafte Antikoagulation benötigen, können lernen, die INR selbst zu messen und Phenprocoumon selbst zu dosieren (Gerinnungsselbstmanagement). Die Kosten dafür (Gerät, Teststreifen, Schulung in speziellen Zentren) werden meist von den Krankenkassen getragen. Zu beachten ist, dass sich eine Änderung der Tablettendosis erst nach einigen Tagen auf die INR auswirkt.[9] Wirkmechanismus und Nebenwirkungsmechanismus siehe: Cumarine.

Phenprocoumon enthält ein Stereozentrum, die (R)- und (S)-Enantiomere wandeln sich durch das Keto-Enol-Gleichgewicht ineinander um. Alle Handelspräparate enthalten den Arzneistoff als Racemat.

Monopräparate: Falithrom (D), Marcoumar (A, CH), Marcumar (D), Marcuphen (D), Phenpro (D), Phenprogamma (D) sowie mehrere Generika (D, A).[16][17][18][19]

  • Jörg Braun: Blut, Blutprodukte und Gerinnungsstörungen. In: Jörg Braun, Roland Preuss (Hrsg.): Klinikleitfaden Intensivmedizin. 9. Auflage. Elsevier, München 2016, ISBN 978-3-437-23763-8, S. 539–579, hier: S. 558 f. (Phenprocoumon, Warfarin).

Einzelnachweise

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  1. The Merck Index: An Encyclopedia of Chemicals, Drugs, and Biologicals, 14. Auflage (Merck & Co., Inc.), Whitehouse Station, NJ, USA, 2006; S. 1253, ISBN 978-0-911910-00-1.
  2. a b c Eintrag zu Phenprocoumon. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 23. Juli 2019.
  3. a b Eintrag zu Phenprocoumon in der ChemIDplus-Datenbank der United States National Library of Medicine (NLM) (Seite nicht mehr abrufbar)
  4. a b Datenblatt Phenprocoumon bei Sigma-Aldrich, abgerufen am 26. Dezember 2022 (PDF).Vorlage:Sigma-Aldrich/Name nicht angegeben
  5. Jörg Braun: Blut, Blutprodukte und Gerinnungsstörungen. In: Jörg Braun, Roland Preuss (Hrsg.): Klinikleitfaden Intensivmedizin. 9. Auflage. Elsevier, München 2016, ISBN 978-3-437-23763-8, S. 539–579, hier: S. 559.
  6. a b c d e f g Fachinfo Marcumar. (PDF; 84 kB) Abgerufen am 9. Februar 2013.
  7. Jörg Braun (2016), S. 558.
  8. Jack Ansell, Jack Hirsh, Leon Poller, Henry Bussey, Alan Jacobson, Elaine Hylek: The pharmacology and management of the vitamin K antagonists: the Seventh ACCP Conference on Antithrombotic and Thrombolytic Therapy. In: Chest. Band 126, 3 Suppl, September 2004, S. 204S–233S, doi:10.1378/chest.126.3_suppl.204S, PMID 15383473 (online).
  9. a b c d Björn Lemmer, Georges Fülgraff: Pharmakotherapie, klinische Pharmakologie: mit 192 Tabellen. [das Lehrbuch zum Querschnittsfach]. 14., überarb. und aktualisierte Auflage. Springer, Heidelberg 2010, ISBN 978-3-642-10540-1.
  10. „[…] sondern auch die antikoagulatorischen Faktoren (Proteine C und S) gehemmt werden“ Marlies Michl, Hämatologie BASICS 3. Auflage.
  11. James D. Douketis, Alex C. Spyropoulos, Scott Kaatz, Richard C. Becker, Joseph A. Caprini, Andrew S. Dunn, David A. Garcia, Alan Jacobson, Amir K. Jaffer, David F. Kong, Sam Schulman, Alexander G. G. Turpie, Vic Hasselblad, Thomas L. Ortel: Perioperative Bridging Anticoagulation in Patients with Atrial Fibrillation. In: The New England Journal of Medicine. 22. Juni 2015, doi:10.1056/NEJMoa1501035, PMID 26095867.
  12. G. Schulz: Zur Hemmung der Blutgerinnung durch Phenprocoumon (PDF; 295 kB). Seminararbeit.
  13. Vitamin K-Gehalt von Lebensmitteln. Abgerufen am 9. Februar 2013.
  14. S. Nöldeke u. a.: Die Cumarinnekrose: Pathophysiologie, Klinik und Therapie. In: Gefäßchirurgie, Ausgabe 6, 2001, S. 129–135, doi:10.1007/s007720100143.
  15. Michael Korenkov: Allgemeinchirurgische Patienten in der Hausarztpraxis. Springer Berlin Heidelberg, City 2015, ISBN 978-3-662-47906-3.
  16. Phenprocoumon „ratiopharm“ 3 mg-Tabletten Fachinformation. (PDF; 70 kB) Abgerufen am 27. Mai 2013.
  17. Rote Liste Online, Stand: August 2009.
  18. Arzneimittelkompendium der Schweiz, Stand: August 2009.
  19. AGES-PharmMed, Stand: August 2009.