Rechenbuch – Wikipedia

Titelblatt des Erstdrucks von Adam Ries’ drittem Rechenbuch (1550)
Japanisches Rechenbuch Jinkōki (1641)

Der Begriff Rechenbuch wird im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext als Bezeichnung für praxisorientierte mathematische Lehrbücher aus der Zeitspanne zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit gebraucht.

Sofern die frühneuzeitlichen Rechenbücher sich neben Arithmetik auch mit Algebra befassten, wurden sie im deutschsprachigen Raum auch als Coß bezeichnet (von italienisch cosa, „Sache“, womit die Variablen in einer Aufgabe bezeichnet wurden). Die Verfasser solcher Rechenbücher wurden dementsprechend auch Cossisten genannt.

Der Ursprung der Rechenbücher liegt in den mathematischen Aufgabensammlungen der frühen Hochkulturen. Während aus der griechisch-römischen Antike nur wenige praxisorientierte mathematische Schriften überliefert sind, stammen die ältesten erhaltenen Rechenbücher aus dem indischen Kulturkreis aus den Jahren zwischen 850 und 1150 n. Chr. Aus dem arabischen Raum sind weit über hundert Rechenbücher, zumeist mit einem ausgeprägten Praxisbezug, überliefert. Das älteste bis heute bekannte in arabischer Sprache verfasste Rechenbuch mit indischen Ziffern wird auf um 950 n. Chr. datiert. Das älteste aus dem Byzantinischen Reich bekannte Traktat wurde 1252 geschrieben, weite Verbreitung fand wenig später das Rechenbuch des Maximos Planudes.[1]

In Europa entstanden in Verbindung mit dem wirtschaftlichen Aufschwung im Hochmittelalter und angeregt durch Fibonaccis 1202 erschienenes Liber abbaci zunächst in Italien erste von Praktikern (sogenannten Rechenmeistern, italienisch maestri d’abbaco) in der Volkssprache statt in Latein geschriebene Darstellungen der für die kaufmännische Praxis wichtigen Rechenoperationen. Inspiriert von diesen italienischen Traktaten entstanden in Deutschland erstmals im späten 15. Jahrhundert, vermehrt dann im 16. und 17. Jahrhundert eine Reihe volkssprachlicher Rechenbücher, die sich überwiegend mit Aufgaben der angewandten Arithmetik, seltener Algebra befassten. Zu den ersten gedruckten Rechenbüchern gehören die Treviso-Arithmetik in Italien (1478), Rechenbücher von Francesc Santcliment in Spanien und das Bamberger Rechenbuch. Letzteres gilt als ältestes vollständig erhaltenes gedrucktes Rechenbuch in deutscher Sprache und wurde von Ulrich Wagner 1483 herausgegeben. Als Verfasser ist im Kolophon der Drucker Heinrich Petzensteiner genannt. Das Bamberger Rechenbuch beruht möglicherweise auf einer älteren vor 1450 entstandenen deutschen Abhandlung.[2] Das bekannteste frühneuzeitliche Rechenbuch ist das 1522 erstmals gedruckte und in zahlreichen Neuauflagen erschienene zweite Rechenbuch Rechenung auff der linihen und federn in zal / maß und gewicht des erzgebirgischen Rechenmeisters Adam Ries. Von Michael Stifel erscheint 1546 das Rechenbuch von der welschen und deutschen Practick.

Als erstes mathematisches Lehrbuch außerhalb Europas erscheint 1556 das Sumario Compendioso in Mexiko.

Die abendländischen Rechenbücher beginnen in der Regel mit einer kurzen Vorstellung der – im spätmittelalterlichen Europa vielerorts noch ungebräuchlichen – indischen Ziffern und der grundlegenden Rechenoperationen mit ihnen und lehren dann deren Anwendung anhand von Beispielaufgaben aus der kaufmännischen Praxis. Durch ihre Verbreitung trugen die gedruckten Rechenbücher erheblich zur Durchsetzung dieser neuen schriftbasierten Methode des indisch-arabischen Ziffernrechnens und damit zur Ablösung des bis dahin gebräuchlichen Rechnens auf Linien mittels Rechenbrettern bei.

Auch im Japan der Edo-Zeit (1603–1868) erschienen – unabhängig von den europäischen Werken und für das Rechnen mit dem japanischen Abakus (Soroban) gedacht – zahlreiche praxisorientierte Rechenbücher. Besonders einflussreich wurde das Jinkōki des Yoshida Mitsuyoshi, das zwischen 1627 und 1641 in mehreren Ausgaben erschien.

Moderne Druckausgaben

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Nachdrucke bekannter Rechenbücher (Auswahl)

  • Das Bamberger Rechenbuch von 1483 von Ulrich Wagner. Nachdruck der Ausgabe Bamberg 1483 mit einem Nachwort von Eberhard Schröder, Weinheim 1988, ISBN 3-527-26725-5.
  • Das 1. Rechenbuch von Adam Ries. Nachdruck der 2. Auflage Erfurt 1525 mit einer Kurzbiographie, einer Inhaltsanalyse, bibliographischen Angaben, einer Übersicht über die Fachsprache und einem metrologischen Anhang von Stefan Deschauer, München 1992, ISBN 3-89241-005-4.
  • Jinkōki. Wasan Institute, Tokyo 2000 (enthält neben der Ausgabe vom Juni 1641 und Teilen der Ausgabe vom November 1641 als Faksimile und in englischer Übersetzung umfangreiche Anmerkungen und Erläuterungen).
  • Rechenung auff der linihen und federn in zal, maß und gewicht auff allerley handierung gemacht und zusamen gelesen durch Adam Riesen von Staffelstein Rechenmeyster zu Erffurdt im 1522 Jar. Nachdruck der Erstausgabe Erfurt 1522 mit einer Kurzbiographie, bibliographischen Angaben und einer Übersicht über die Fachsprache von Stefan Deschauer, München 1991, ISBN 3-89241-004-6.
  • Adam Ries: Rechenbuch auff Linien und Ziphren in allerley Handthierung, Geschäfften unnd Kauffmanschafft […]. Frankfurt am Main 1574; Neudruck 1954.

Übertragungen ins Neuhochdeutsche

  • Kai Brodersen, Christiane Brodersen: Adam Ries, Das erste Rechenbuch (Erfurt 1525). Speyer 2018 ISBN 978-3-939526-38-4
  • Stefan Deschauer: Das zweite Rechenbuch von Adam Ries: eine moderne Textfassung mit Kommentar und metrologischem Anhang und einer Einführung in Leben und Werk des Rechenmeisters. Braunschweig u. a. 1992, ISBN 3-528-06412-9.

Online verfügbare Digitalisate

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Handschriften

Drucke

Hilfsmittel

  • David Eugene Smith: Rara Arithmetica: a catalogue of the arithmetics written before the year 1601 with a description of those in the library of George Arthur Plimpton of New York. Boston u. a. 1908.

Darstellungen

  • Walther L. Fischer: Das Jinko-ki von Mitsuyoshi Yoshida (1627). Das berühmteste japanische Rechenbuch der Edo-Zeit. Universität Erlangen-Nürnberg, Nürnberg 1996 (Arbeitsberichte und Reprints, Nr. 2, 1996.).
  • Menso Folkerts, Erwin Neuenschwander: Rechenkunst, -methoden, Rechenbücher. In: Lexikon des Mittelalters. Band 7, München u. a. 1995, ISBN 3-7608-8907-7, S. 502–508 (dort auch Angaben zu weiterführender Literatur).
  • Barbara Gärtner: Johannes Widmanns „Behende vnd hubsche Rechenung“. Die Textsorte „Rechenbuch“ in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2000, ISBN 3-484-31222-X (enthält unter anderem die Edition des 1489 in Leipzig erschienenen Rechenbuchs von Johannes Widmann).
  • Rainer Gebhardt, Helmuth Albrecht (Hrsg.): Rechenmeister und Cossisten der frühen Neuzeit. Beiträge zum wissenschaftlichen Kolloquium am 21. September 1996 in Annaberg-Buchholz. Freiberg 1996, ISBN 3-930430-05-3.
  • Hugo Grosse: Historische Rechenbücher des 16. und 17. Jahrhunderts und die Entwicklung ihrer Grundgedanken bis zur Neuzeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Methodik des Rechenunterrichts. Neudruck der Ausgabe Leipzig 1901, Wiesbaden 1965.
  • Wolfgang Kaunzner, Karl Röttel: Christoff Rudolff aus Jauer – Faksimiles der Coss und der beiden Rechenbücher sowie ausführliche Beschreibungen. Zum 500. Geburtstag des schlesischen Mathematikers Rudolff. Eichstätt 2006, ISBN 3-928671-39-1.
  • Friedrich Unger: Die Methodik der praktischen Arithmetik in historischer Entwickelung vom Ausgange des Mittelalters bis auf die Gegenwart. Leipzig 1888.
Wikisource: Rechenbücher – Quellen und Volltexte
Commons: Rechenbücher – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Kai Brodersen, Christiane Brodersen: Planudes, Rechenbuch, griechisch und deutsch. Berlin 2020 (= Sammlung Tusculum), ISBN 978-3-11-071192-9.
  2. Monika Zimmermann: Bamberger Rechenbuch 1483. In: Burghart Wachinger u. a. (Hrsg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Band 1: ‘A solis ortus cardine’ – Colmarer Dominikanerchronist. 2., völlig neubearbeitete Auflage. de Gruyter, Berlin / New York 1978, ISBN 3-11-007264-5, Spalte 596–599.
  3. online über die Staatsbibliothek Bamberg.
  4. Digitale Volltext-Ausgabe des Exemplars aus der Historischen Gymnasialbibliothek Christianeum Hamburg in Wikisource (Digitalisat auf Wikimedia Commons, Begleitprojekt auf Wikiversity).
  5. urn:nbn:de:bvb:22-dtl-0000000478 über die Staatsbibliothek Bamberg.
  6. online über die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel.
  7. online über die Sammlung Albert Ritzaeus Hardenberg der Johannes a Lasco Bibliothek Emden.
  8. De Adam Risen Rechenbuch. Wikimedia Commons
  9. online über die Universitätsbibliothek Bielefeld.