Riegner-Telegramm – Wikipedia
Das Riegner-Telegramm (auch Riegner-Bericht genannt) vom 8. August 1942[1] war die vermutlich erste Mitteilung an die Alliierten über die beginnende Judenvernichtung in Polen (Aktion Reinhardt) durch einen glaubwürdigen deutschen Informanten. Der Absender war Gerhart M. Riegner, Büroleiter des Jüdischen Weltkongresses in Genf. Der deutsche Industrielle Eduard Schulte hatte Riegner über die so genannte „Endlösung“ informiert. Das Telegramm fand zunächst keinen Glauben bei den Alliierten.
Über britische und amerikanische diplomatische Kanäle schickte er nach London und Washington folgenden, hier aus dem Englischen übersetzten Text:
„Erhielten alarmierenden Bericht, im Führerhauptquartier sei ein Plan diskutiert worden und werde erwogen, alle Juden in von Deutschland besetzten oder kontrollierten Ländern, Anzahl dreieinhalb bis vier Millionen, nach Deportation und Konzentration im Osten mit einem Schlag auszurotten und damit die jüdische Frage in Europa ein für allemal zu lösen. Es wird berichtet, Aktion sei geplant für den Herbst. Über Methoden wird noch diskutiert, darunter auch Blausäure. Wir übersenden diese Information unter allem gebotenen Vorbehalt, da Genauigkeit von uns nicht überprüft werden kann. Unser Informant soll enge Verbindungen mit höchsten deutschen Behörden haben, und seine Berichte sind im Allgemeinen zuverlässig. Bitte New York informieren und befragen.“
Obwohl bereits Nachrichten über Massenexekutionen in Polen und an der Ostfront in Europa nach England und in die USA gedrungen waren, wertete das amerikanische State Department den Inhalt des Telegramms als „wildes, von jüdischen Ängsten inspiriertes Gerücht“; das Foreign Office (Außenministerium) leitete das Telegramm erst einmal nicht weiter. Erst am 28. August 1942 gelangte es zum Leiter des Jüdischen Weltkongresses in New York, dem Rabbiner Stephen Wise, der daraufhin Felix Frankfurter, einen Richter am Supreme Court, informierte. Dieser sorgte dafür, dass der Bericht ins White House gelangte. Auch der Vatikan und das IKRK wurden informiert.[2][3] Beide hätten geltend gemacht, die Glaubwürdigkeit des Berichts nicht überprüfen zu können.[4]
Die danach erarbeitete und ab dem 17. Dezember 1942 veröffentlichte Interalliierte Erklärung zur Vernichtung der Juden machte jedoch den nunmehr umfassenden Kenntnisstand der Alliierten deutlich. Das State Department verhinderte Hilfsleistungen und unterdrückte weitere Informationsweitergaben zum Holocaust in Europa. Ende 1943 wurde Finanzminister Henry Morgenthau von seinen Mitarbeitern mit einem Bericht konfrontiert, der die ständigen Bemühungen des State Department offenlegte, Informationen über den Holocaust zu verheimlichen und die Einleitung von Rettungsbemühungen zu behindern (Report to the Secretary on the Acquiescence of This Government in the Murder of the Jews). Darauf angesprochen kam Präsident Roosevelt Anfang 1944 dem Vorschlag von Morgenthau nach, das War Refugee Board zu gründen.[5][6]
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Heiner Lichtenstein: Warum Auschwitz nicht bombardiert wurde. Bund-Verlag, Köln 1980, ISBN 3-7663-0428-3.
- Walter Laqueur: Was niemand wissen wollte. Die Unterdrückung der Nachrichten über Hitlers „Endlösung“. Ullstein, Frankfurt am Main u. a. 1981, ISBN 3-550-07947-8.
- Gerhart M. Riegner: Niemals verzweifeln. Sechzig Jahre für das jüdische Volk und die Menschenrechte. Bleicher, Gerlingen 2001, ISBN 3-88350-669-9, (Zeugen der Zeit).
- Günter Schubert: Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste. Amerika und die jüdischen Flüchtlinge 1938-1945. Campus-Verlag, Frankfurt am Main u. a. 2003, ISBN 3-593-37275-4.
- Corrado Augias: Kapitel XIII in Die Geheimnisse des Vatikan, C.H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-61363-0.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- NZZ-Format: Nachrichten aus dem Untergrund ( vom 10. März 2005 im Internet Archive)
- The Riegner Telegram. US Holocaust Memorial Museum
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Das Originaltelegramm mit Riegners Bericht wurde am 8. August in Genf abgesetzt. Im Laufe der Übertragung über diplomatische Kanäle entstanden Kopien, die verschlüsselt und wieder entschlüsselt wurden. Siehe Gutman, Jäckel, Longerich, Schoeps (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Band 2. Argon Verlag, Berlin 1993, ISBN 3-87024-300-7.
- ↑ Jonathan Gorsky: Pius XII. and the Holocaust In: Carol Rittner, Stephen D. Smith, Irena Steinfeldt: The Holocaust and the Christian World. Yad Vashem 2000, S. 133–137 (englisch).
- ↑ Monty Noam Penkower: The World Jewish Congress Confronts the International Red Cross during the Holocaust. Jewish Social Studies 1979, S. 229–256 (englisch).
- ↑ Corrado Augias: Die Geheimnisse des Vatikan S. 340 ff, C.H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-61363-0.
- ↑ Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. C. H. Beck 1997, ISBN 978-3-406-56681-3, S. 978 und 980.
- ↑ War Refugee Board: Background and Establishment. USHMM, Holocaust Encyclopedia, abgerufen am 4. Juli 2021.