Sakralisierung – Wikipedia

Als Sakralisierung (von „sakral“, lat. sacer, „heilig“) wird ein symbolischer , sozialer Zuschreibungsprozess bezeichnet, durch den eine Entität , also Personen, Dinge, Kollektive, Natur etc., normativ überhöht und als unverfügbare, durch nichts infrage zu stellende, dem menschlichen Handeln entzogene Instanz kommuniziert wird. Dieser wird durch einen solchen heiligenden Akt wie die Heiligsprechung oder eine Wallfahrt ein religiöser Sinn oder Zweck zugewiesen werden; meist wird ihre intensive affektive Verehrung normativ gefordert. Ein solcher heiligender Akt bzw. seine Wiederholung hat meist die Form einer Inszenierung bzw. eines (teils verschriftlichten) Rituals; es handelt sich um einen oder eine Folge von performativen Akten.

In der neuesten Zeit wurde die Bedeutung des Begriffs metaphorisch ausgeweitet; er wird heute auch für eine übertriebene, der Sache nicht angemessene Verehrung ursprünglich nichtreligiöser Phänomene und Instanzen gebraucht („Quasi-Sakralisierung“, vgl. auch „sakrosankt“).

Gegenstand der Sakralisierung können reale oder fiktive Personen, Heroen[1] und spirituelle Anführer, Märtyrer und Asketen, Herrscher (siehe Gottesgnadentum)[2] oder deren Insignien (z. B. die ungarische Stephanskrone), Nationen und ethnische Gemeinschaften,[3] Räume und Gebäude, Bilder, Texte (z. B. nationale Epen) oder Manuskripte und auch kriegerische Auseinandersetzungen (Heiliger Krieg) werden. Werden Personen zu Lebzeiten oder (wie im antiken Rom) nach ihrem Tode zur Gottheit überhöht, spricht man von Divinisierung (von lat. divus, „Gott“).

Sakralisierung und Desakralisierung

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Bischof Ulrich von Augsburg (zu Pferd bei der Schlacht auf dem Lechfeld vor dem Augsburger Dom) wurde angeblich als erster 993 vom Papst persönlich heiliggesprochen.

Sakralisierung ist prinzipiell nie endgültig, sondern Gegenstand von stets neuen Aushandlungen und Kämpfen. Das Gegenteil von Sakralisierung ist die Desakralisierung, also ein Prozess, durch den eine sakralisierte Instanz ihren Status oder ihre Verehrung einbüßt, d. h. letztlich eine veränderte Zuschreibung. Manchmal sind diese Zuschreibungen auch fluid: In der Kultur der Hindu verschwimmt oft die Identität von Menschen, Helden und Göttern.[4]

Damit vermeidet der Begriff der Sakralisierung eine essentialistische Unterscheidung zwischen den Bereichen des außerweltlichen, transzendenten Heiligen und des innerweltlichen Profanen. Er nimmt die Entrückung irdisch-säkularer Phänomene in den Kreis der sakral zu verehrenden Instanzen ebenso in den Blick wie die Möglichkeit der Desakralisierung von einstmals religiös verehrten Instanzen, Orten oder Formen der Verehrung, wie sie etwa mit der europäischen Aufklärung verbunden war. Sakralisierung und Desakralisierung sind somit auch Ausdrucksformen sozialen Wandels.

Eine Desakralisierung kann entweder durch einen Akt oder aber schleichend durch den Verlust der psychologischen Evidenz des Sakralen erfolgen.[5] Als kompensatorische, die transzendente Lücke füllende Reaktion auf Prozesse der Desakralisierung findet häufig eine Überhöhung und (zumindest metaphorische) Sakralisierung von Ersatzinstanzen statt (z. B. Moral, Wissenschaft, Kunst, Verfassung, Eigentum, Arbeit, Körper, Pop-Ikonen, Klasse, Kaste oder Rasse, Identität, Selbstverwirklichung). So führte die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft einerseits zur Desakralisierung der Welt, während sie sich andererseits selbst eine letztinstanzliche Autorität zuschreibt und sich eine Aura des Sakralen verleiht.

Eine Sakralisierung geht oft einher mit der Ausbildung eines Kanons autoritativer Texte, der Verehrung von Bildern und Gegenständen sowie mit der Formulierung von Dogmen oder der Aufstellung von religiös-moralischen Verhaltensregeln. Prozesse der Desakralisierung sind oft verbunden mit Ikonoklasmen und der Profanierung von Kultstätten.

Auch politische Konzepte bzw. Strukturen erfahren aus strategischen Gründen eine Sakralisierung: Zwecks Machtlegitimation und -erhalt werden sie mit Tabu-, Opfer-, Verehrungs- und Erlösungsmotiven aufgeladen. Indem sich politische Macht als religiöses Surrogat stilisiert, versucht sie sich von vornherein möglichem Protest zu entziehen. Die Journalistin Anna Sauerbrey kritisiert dies als demokratiegefährdend: „Sakrale Narrative [...] sind zwar wirkungsvolle, aber in Wahrheit schwache Rechtfertigungen. Traditionell sind sie Teil von Rechtfertigungsstrategien totalitärer oder absolutistischer Herrschaft, aus gutem Grund. Sakrale Narrative [...] entbinden regelrecht von der Notwendigkeit einer echten Begründung der Legitimität von Herrschaft, Ideen oder Handeln, sei sie theoretisch oder auf den Nutzen gerichtet. In einer sakralen Erzählung wird jede Gegenmeinung zur Blasphemie, jede Kritik zur Gefahr für die Seele, jeder Kritiker zum Feind der Gemeinschaft der Seligen. Sakrale Begründungen immunisieren sich selbst und verhindern eine offene Debatte, wie sie in der Demokratie normal sein sollte.“[6]

Historische Beispiele

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Ahnenverehrung: Ahnenpfähle der Asmat in Westneuguinea (Tropenmuseum Amsterdam). Hier gibt es keine Trennung zwischen den Bereichen der Diesseits und des Jenseits, des Profanen und des Sakralen.

In neolithischen Fernhändlerkulturen wurden Tauschmittel oft auch als sakrale Objekte verwendet (z. B. die Spondylus-Muschel).[7] In vielen Kulturen erfuhren die Vorfahren eine sakrale Verehrung. Im Rahmen der alten Tempelkulturen wurden Tiere als Verkörperungen von Gottheiten, später auch Geld kultisch verehrt. Seit der Zeit Homers ist die kultische Verehrung von Heroen belegt.[8]

Die Scheidung zwischen einer sakralen und einer profanen Welt, zwischen Transzendenz und Immanenz wird jedoch erst in den monotheistischen Religionen vollständig vollzogen; solange noch Natur- usw. Gottheiten verehrt werden, ist sie unvollständig. In der Spätantike vermischten sich die Konzepte des antiken Helden und des christlichen Heiligen.[9] Seit dem 11. Jahrhundert versuchte das deutsche Kaisertum das Heilige Römische Reich durch eine eigenständige Heiligkeit von der Kirche abzugrenzen und sich ihr als gleichwertig gegenüberzustellen. Auch wurden die Kreuzzüge sakralisiert, und zwar nicht nur im Sinne einer kirchenrechtlichen Legitimation als gerechter Krieg, sondern durch Entfachung einer wallfahrtsähnlichen religiösen Kriegsbegeisterung.[10]

„Das französische Volk erkennt das höchste Wesen und die Unsterblichkeit der Seele an“ (anonym, 1794)

Durch die Religionskritik der Aufklärung wurden die religiösen Geltungsquellen des Sakralen von Voltaire und anderen in Frage gestellt. Nach d’Holbach sei Gott eine Projektion, in der Mensch das verehrt, was er an sich selber oder an den ihn umgebenden Dingen als Schwächen oder Unvollkommenheiten erkennt: Ewigkeit, Güte, Weisheit, Beherrschung der Natur. Ein solches Trugbild sei aber eine unsichere Basis für die Moral.[11] Diese, die Natur und die Vernunft erfuhren vor und in der französischen Revolution eine gesteigerte sakrale Verehrung, etwa in Form des von Jacques-René Hébert propagierten Vernuftkultes oder des als neue Staatsreligion entworfenen deistischen Kultes des höchsten Wesens, den Maximilien Robespierre für wichtig für die soziale Ordnung hielt.

Nach den Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts erlebte die Religion jedoch wieder einen Aufschwung; und dieses Wechselspiel zwischen De- und Resakralisierung scheint auch für heutige Gesellschaften typisch zu sein.[12]

Im Zeitalter des Nationalismus erfuhren die Nation bzw. die ethnische Vergemeinschaftung quasireligiöse Verehrung. In Deutschland scheint dies ursprünglich auch ein Weg zur Überwindung der lähmenden konfessionellen Spaltung gewesen zu sein,[13] später jedoch auch eine konservative Reaktion auf die Sakralisierung des Republikanismus als der Form politischer Vergesellschaftung in Frankreich. Auch in vielen ostmittel- und osteuropäischen Ländern wurde die Nation mit religiösen Deutungssystemen verbunden. Die Nation übernahm bestimmte Funktionen der Religion; sie forderte Opfer und stiftete individuellen Lebenssinn.

Für die europäische Spätromantik und das Fin de Siècle wurden Kunstreligion und Künstlerkult charakteristisch.

Étienne-Louis Boullée: Entwurf eines Kenotaphs für Isaac Newton (1784), Ausdruck eines Vernunft- und frühen Wissenschaftskults

Mit zunehmender Säkularisierung und „Entzauberung“ der Welt infolge des Vordringens der Wissenschaft unterlag auch diese Sakralisierungstendenzen, zuerst wohl bei Auguste Comte mit seiner Idee einer positivistischen Religion, die in Teilen Lateinamerikas als Staatsreligion verehrt wurde. Das Beispiel zeigt die identitätsstiftende Wirkung von Sakralisierungsprozessen: Mit Hilfe der positivistischen Doktrin wollte man sich vom spanischen Katholizismus abgrenzen, gesellschaftliche Spaltungen beheben und den Einfluss von Mystizismus und Religion begrenzen.[14] In den ökonomisch-philosophisch-juristischen Konzepten des liberalen Besitzindividualismus und des modernen (Neo-)Proprietarismus wird das Eigentum zu einer unantastbaren Instanz überhöht. politische Anführer wurden durch Personenkult (ein von Karl Marx geprägter Begriff) immer wieder sakralisiert.

Jürgen Habermas rechnet angesichts des postsäkularen Charakters des frühen 21. Jahrhunderts mit einem stärkeren gesellschaftlichen Bedürfnis nach einer spirituellen „Wiederverzauberung“ der Welt. So hat sich die vorherige Tendenz zur Entsakralisierung der Natur in eine Tendenz zur (Re-)Sakralisierung und spirituellen Aufladung gewandelt.[15] Auch erfährt in neuerer Zeit bspw. der Körper häufig eine Quasi-Sakralisierung durch die Fitnesskultur,[16] was in der Metapher der „Gesundheitsreligion“ oder in der Formulierung vom „Essen als Ersatzreligion“[17] seinen Ausdruck findet. Schließlich kommt es als Reaktion auf postmoderne Identitätskrisen zu einer inflationären Quasi-Sakralisierung von Identitäten, die als monolithisch und unantastbar dargestellt werden und der Abgrenzung dienen. Aber auch politische Kulturen (in Form der Zivilreligion) werden heute sakralisiert. Der Versuch von Hans Joas, durch eine „Sakralisierung der Person“ eine neue Legitimation für die nicht rational zu begründende Allgemeingültigkeit und Unverfügbarkeit der Menschenrechte zu geben, setzt allerdings eine globale Kodifikation voraus.[18] Nicht zu verwechseln ist dies mit der narzisstischen Sakralisierung des Selbst als Folge der fast unbegrenzten Möglichkeiten digitaler Selbstinszenierung, z. B. durch Influencer.

  • Stephan Moebius: Sociology of the Sacred. The Revitalisation of the Durkheim School at the Collège de Sociologie and its development by Hans Joas. In: Hans Joas, Andreas Pettenkofer (Ed.): The Oxford Handbook of Émile Durkheim, 2020, Oxford, DOI:10.1093/oxfordhb/9780190679354.013.25
  • Felix Heinzer, Jörn Leonhard, Ralf von den Hoff: Sakralisierung. In: Compendium heroicum. Hrsg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher, Anna Schreurs-Morét. Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg, 13. Februar 2019. doi:10.6094/heroicum/skd1.0
  • Magnus Schlette, Volkhard Krech: Sakralisierung. In: D. Pollack, V. Krech, O. Müller, M. Hero (Hrsg.): Handbuch Religionssoziologie. Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Springer VS, Wiesbaden 2018. doi:10.1007/978-3-531-18924-6_17
  • Magnus Schlette u. a. (Hrsg.): Idealbildung, Sakralisierung und Religion. Im Gespräch mit Hans Joas. Frankfurt, New York 2020.
  • M. Hildebrandt, M. Brocker, H. Behr (Hrsg.): Sakulärisierung und Resakralisierung in westlichen Gesellschaften. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2001.
  • Stephan Moebius: Die Sakralisierung des Individuums. Eine religions- und herrschaftssoziologische Konzeptionalisierung der Sozialfigur des Helden. In: Johanna Rolshoven, Toni Krause (Hrsg.): Heroes – Repräsentationen des Heroischen in Geschichte, Literatur und Alltag, transcript, Bielefeld 2018, S. 41–65.

Einzelnachweise

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  1. Felix Heinzer, Jörn Leonhard, Ralf von den Hoff (Hrsg.): Sakralität und Heldentum. Nomos, 2017.
  2. Franz-Reiner Erkens: Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit. Stuttgart 2006.
  3. Martin Schulze Wessel (Hrsg.): Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa. Stuttgart 2006.
  4. Karin Steiner: Mensch, Held, Gott: ‚Fluid identities‘ in hinduistischen Traditionen. In: F. Heinzer u. a. 2017, S. 129–142.
  5. Schlette, Krech 2016, S. 444.
  6. Anna Sauerbrey: Europa muss sich rechtfertigen. Die Sorge vor Krieg reicht nicht als Begründung für die EU, tagesspiegel.de vom 28. Januar 2019, 14:25 Uhr. Abgerufen am 2. August 2023.
  7. Johannes Müller: Neolithische und chalkolithische Spondylusartefakte. Anmerkungen zu Verbreitung, Tauschgebiet und sozialer Funktion. In: Chronos (Festschrift B. Hänsel), Espelkamp 1997, S. 91 ff.
  8. Fabian Horn: Held und Heldentum bei Homer. Das homerische Heldenkonzept und seine poetische Verwendung. Tübingen 2014.
  9. Jan N. Bremmer: From Heroes to Saints and from Martyrological to Hagiographical Discourse. In: Felix Heinzer, Jörn Leonhard, Ralf von den Hoff (Hrsg.): Sakralität und Heldentum. Würzburg 2017, S. 35–66.
  10. Niole Priesching: Der Erste Kreuzzug als Pilgerfahrt: eine Militarisierung der Wallfahrt oder eine Sakralisierung der Ritterschaft? In: Annali di studi religiosi, Band 11 (2010), S. 147—166, hier: S. 149.
  11. Paul Thiry d’Holbach: Système de la nature (anonym 1770), dt.: System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt. Berlin 1960, S. 251 ff.
  12. Ulrich Willems: Säkularisierung des Politischen oder politikwissenschaftlicher Säkularismus? Zum disziplinären Perzeptionsmuster des Verhältnisses von Religion und Politik in gegenwärtigen Gesellschaften. In: M. Hildebrandt, M. Brocker, H. Behr (Hrsg.): Sakulärisierung und Resakralisierung in westlichen Gesellschaften. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2001, S. 215–240.
  13. Michael Maurer: Konfessionskulturen. Paderborn 2019, S. 301 ff.
  14. Greg Gilson, Irving Levinson: Latin American Positivism: New Historical and Philosophic Essays. Lexington Books, 2013.
  15. W. Gephart: Die Sakralisierung der Natur im Wandel des Naturverhältnisses. In: Bilder der Moderne. Sphären der Moderne. Band 1. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. doi:10.1007/978-3-663-09412-8_10
  16. Robert Gugutzer: Die Sakralisierung des Profanen. Der Körperkult als individualisierte Sozialform des Religiöse. In: R. Gugutzer, M. Böttcher (Hrsg.): Körper, Sport und Religion. Wiesbaden 2012, S. 285–309.
  17. Gabriela Freitag-Ziegler: Essen als Ideologie oder Ersatzreligion, Bundeszentrale für Ernährung.
  18. Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Frankfurt 2011.