Soziale Differenzierung – Wikipedia
Als Differenzierung, soziale Differenzierung oder gesellschaftliche Differenzierung werden in der Soziologie langfristige Veränderungen einer Gesellschaft bezeichnet, die mit der Neuentstehung oder Aufgliederung von sozialen Positionen, Lebenslagen oder Lebensstilen verbunden sind, sowie das Ergebnis solcher Prozesse, eine soziale Differenziertheit. Der Begriff wurde 1890 vom deutschen Soziologen Georg Simmel (1858–1918) in seinem Werk Über soziale Differenzierung eingeführt.
Arten und Formen der sozialen Differenzierung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Horizontale Differenzierung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die horizontale Differenzierung ergibt sich aus der Vervielfältigung oder Spezialisierung von Aufgaben und Tätigkeiten, insbesondere von Berufen (Arbeitsteilung) und dazugehörigen Ausbildungswegen, sowie von Lebensstilen.
Empirische Belege für eine horizontale Differenzierung gibt es bereits für die Jungsteinzeit, als die erhöhte Produktivität durch die Einführung der Landwirtschaft ermöglichte, auch nicht landwirtschaftlich tätige Personen zu ernähren. Verstärkt ist sie bei der Entstehung der städtischen Hochkulturen ab dem 4. Jahrtausend v. Chr. zu beobachten, beispielsweise in Mesopotamien oder im China der frühen Dynastien. Weitere „Schübe“ horizontaler Differenzierung gab es in der Periode des Hellenismus, bei der Herausbildung der italienischen Stadtstaaten im späten Mittelalter sowie der Entstehung von Manufakturen in der Neuzeit. Mit der beginnenden Industrialisierung, die sich von der ersten industriellen Revolution über das Entstehen von Elektro- und chemischer bis hin zur Elektronikindustrie fortgesetzt hat, wird horizontale Differenzierung zu einem Gegenstand der sich herausbildenden Soziologie. In neuerer Zeit gerät vor allem die Differenzierung von Lebensstilen ins Zentrum soziologischer Analysen.
Vertikale Differenzierung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Werden soziale Positionen mit einer hierarchischen Bewertung verbunden, wird das als vertikale Differenzierung bezeichnet. Der wichtigste Spezialfall vertikaler Differenzierung ist die Entstehung oder Aufgliederung von Macht- und Herrschaftsstrukturen.
Räumliche Differenzierung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Entstehung von sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Unterschieden zwischen Stadt und Land, zwischen Großstadt und vorstädtischem Raum sowie die sozialräumliche Aufgliederung von (beispielsweise städtischen) Teilgebieten wird als räumliche Differenzierung bezeichnet und ebenfalls dem Oberbegriff soziale Differenzierung untergeordnet.
Segmentäre Differenzierung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die segmentäre Differenzierung beruht auf dem Modell von einfachen, kleinen und räumlich voneinander getrennten gleichartigen Gesellschaften mit face-to-face-Kommunikation, beispielsweise in Stämmen oder Dörfern. Alle Mitglieder haben im Wesentlichen die gleichen sozialen Rollen inne (vergleiche Segmentäre Gesellschaft).
Funktionale Differenzierung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Wird die Herausbildung und Aufgliederung sozialer Positionen, aber auch die Herausbildung von Institutionen, unter den Gesichtspunkten einer funktionalistischen, strukturell-funktionalen oder systemtheoretischen Analyse beschrieben, so werden sie auch als funktionale Differenzierung bezeichnet.
Problematik
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Michael Jäckel hebt hervor, dass es im Zuge zunehmender sozialer Differenzierung und Individualisierung zu Desintegrationsphänomenen kommen kann und zitiert in diesem Zusammenhang Uwe Schimank:
„Immer mehr Gesellschaftsmitglieder schlagen sich mit immer beschränkteren „Tunnelblicken“ durchs Leben; und wer hat dann eigentlich noch den Überblick über die Ordnung des gesellschaftlichen Ganzen?“
Uwe Schimank spricht zudem von einer Ambivalenz bei dieser Differenzierung. Auf der einen Seite werden die persönlichen Chancen beispielsweise durch die Individualisierung erhöht, aber zum anderen schafft dieser Prozess Einsamkeit und Orientierungslosigkeit.[2]
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Sozialer Wandel (Kulturwandel, gesellschaftlicher Wandel)
- Soziale Ungleichheit (ungleiche Verteilung materieller und immaterieller Ressourcen in einer Gesellschaft)
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Jeffrey C. Alexander: Soziale Differenzierung und kultureller Wandel. Essays zur neofunktionalistischen Gesellschaftstheorie. Campus, Frankfurt/New York 2001, ISBN 3-593-34743-1.
- Émile Durkheim, Niklas Luhmann (Vorwort): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. 2. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt 1996, ISBN 3-518-28605-6.
- Karl Otto Hondrich: Soziale Differenzierung. Langzeitanalysen zum Wandel von Politik, Arbeit und Familie. Campus, Frankfurt/New York 1982, ISBN 3-593-33142-X.
- Niklas Luhmann (Hrsg.): Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee. VS, Wiesbaden 1997, ISBN 3-531-11708-4.
- Renate Mayntz u. a.: Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme. Campus, Frankfurt/New York 1988, ISBN 3-593-34030-5.
- Uwe Schimank: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung. 2. Auflage. Leske Budrich, Opladen 1996, ISBN 3-8252-1886-4.
- Uwe Schimank: Differenzierung und Integration der modernen Gesellschaft. Band 1: Beiträge zur akteurzentrierten Differenzierungstheorie. VS, Wiesbaden 2005, ISBN 3-531-14683-1.
- Georg Simmel: Über sociale Differenzierung. In: Gesamtausgabe: Aufsätze 1887–1890, 2. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt 1999, ISBN 3-518-57952-5 (erstveröffentlicht 1890).
- Annette Spellerberg: Soziale Differenzierung durch Lebensstile. Eine empirische Untersuchung zur Lebensqualität in West- und Ostdeutschland. Sigma, Berlin 1996, ISBN 3-89404-155-2.
- Herbert Spencer: Structure, Function and Evolution. Joseph, London 1971, ISBN 0-7181-0748-9.
- Veronika Tacke: Organisation und gesellschaftliche Differenzierung. VS, Wiesbaden 2001, ISBN 3-531-13442-6.
Kritik und Weiterentwicklung:
- Thomas Schwinn: Differenzierung ohne Gesellschaft. Umstellung eines soziologischen Konzepts. Velbrück, Weilerswist 2001, ISBN 3-934730-36-1.
- Thomas Schwinn (Hrsg.): Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung. Humanities, Frankfurt 2004, ISBN 3-934157-15-7.
- Thomas Schwinn, Jens Greve, Clemens Kroneberg (Hrsg.): Soziale Differenzierung: Erkenntnisgewinne handlungs- und systemtheoretischer Zugänge. VS, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-531-17388-7.
Anwendung auf Sonderthemen:
- Jürgen Brockmann: Die Differenzierung der sowjetischen Sozialstruktur. Harrassowitz, Wiesbaden 1978, ISBN 3-447-01941-7.
- Ingrid Gogolin, Bernhard Nauck: Migration, gesellschaftliche Differenzierung und Bildung. Resultate des Forschungsschwerpunktprogramms FABER. Leske Budrich, Opladen 2000, ISBN 3-8100-2257-8.
- Paraskevi Grekopoulou: Die Mittelschichten in Griechenland. Entwicklung und soziale Differenzierung seit 1950. Ein Beitrag zur Sozialstrukturanalyse Griechenlands (= Europäische Hochschulschriften. Band 22). Lang, Frankfurt u. a. 1995, ISBN 3-631-46999-3.
- Klaus Holz: Staatsbürgerschaft: soziale Differenzierung und politische Inklusion. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002, ISBN 3-531-14000-0.
- Dirk Jurich: Staatssozialismus und gesellschaftliche Differenzierung. Lit, Berlin/Münster 2006, ISBN 3-8258-9893-8.
- Rainer Unger: Soziale Differenzierung der aktiven Lebenserwartung im internationalen Vergleich. Eine Längsschnittuntersuchung mit den Daten des Sozio-ökonomischen Panel und der Panel Study of Income Dynamics. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden 2003, ISBN 3-8244-4533-6.