Ultra-vires-Akt – Wikipedia

Als Ultra-vires-Akt („jenseits der Gewalten“, „jenseits der Befugnisse“) wird eine Entscheidung bezeichnet, die ein Gericht oder eine Behörde außerhalb ihres Kompetenzbereichs trifft. Geläufig ist auch der Begriff ausbrechender Rechtsakt.[1] Diese Bezeichnung findet sich bei „greifbar rechtswidrigen“ Gerichtsentscheidungen.[2][3]

Kontrolle nationalen Rechts

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Gegen solche „greifbar rechtswidrigen“ Gerichtsentscheidungen im Zivilprozessrecht und Verwaltungsprozessrecht Deutschlands sind die gesetzlich vorgesehenen ordentlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe eröffnet. Die darüber hinaus um Rechtsschutzlücken zu schließen früher als Rechtsbehelf gegen Entscheidungen, die nach dem Gesetz unanfechtbar sind, als zulässig erachtete außerordentliche Beschwerde ist seit dem Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes vom 27. Juli 2001 nach ganz überwiegender Meinung[4][5][6] nicht mehr vorgesehen. Insbesondere hält sie seitdem auch die Frist für die Verfassungsbeschwerde nicht mehr offen.[7] Entsprechendes gilt im Finanzprozessrecht Deutschlands seit Inkrafttreten des § 133a FGO zum 1. Januar 2005[8] und im Arbeitsprozessrecht seit Inkrafttreten des § 78a ArbGG zum selben Datum[9].

Kontrolle europäischen Rechts

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Im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle prüft das Bundesverfassungsgericht, ob sich eine Maßnahme europäischer Organe, Einrichtungen oder sonstiger Stellen innerhalb der vom nationalen Gesetzgeber an die EU übertragenen Kompetenzen hält (Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung).[10] Die Ultra-vires- und die Identitätskontrolle sind jedoch zurückhaltend und europarechtsfreundlich anzuwenden. Dies setzt voraus, dass der Gerichtshof der Europäischen Union, soweit erforderlich, im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV mit der Sache befasst wird und das Bundesverfassungsgericht seiner Prüfung die Maßnahme in der Auslegung zugrunde legt, die ihr in dem Vorabentscheidungsverfahren durch den Gerichtshof gegeben wird.[11]

Bei der Mangold-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes wurde von einigen Autoren von einem ultra-vires-Akt gesprochen.[12] Das deutsche Bundesverfassungsgericht folgte dieser Meinung indes nicht und wies die Verfassungsbeschwerde zurück, weil es zu keiner im Sinne der engen Voraussetzungen beachtlichen Kompetenzüberschreitung gekommen sei.[13] Andererseits bejahte das Bundesverfassungsgericht mit seiner vieldiskutierten Entscheidung vom 5. Mai 2020 einen ultra-vires-Akt beim Staatsanleihekaufprogramm (Public Sector Purchase Programme – PSPP) durch den Europäischen Gerichtshof.[14][15][16][17][18] Insbesondere seit dieser Entscheidung des BVerfG wird zur Lösung von Konflikten nationaler Verfassungsgerichte und des Europäischen Gerichtshofs über die Abgrenzung mitgliedstaatlicher und europäischer Befugnisse die Errichtung einer besonderen Entscheidungsinstanz, beispielsweise eines europäischen Kompetenzgerichtshofs diskutiert.[19] Kritiker lehnen eine solche Instanz ab, weil es damit den europäischen Organen gestattet wäre, Kompetenzen eigenmächtig an sich zu ziehen, obwohl der Europäischen Union eine Kompetenz-Kompetenz gerade nicht zukommt.[20]

Zum Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz[21] wies das Bundesverfassungsgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sowie die erhobenen Verfassungsbeschwerden im Hauptsacheverfahren zurück, weil der Eigenmittelbeschluss des Europäischen Rates[22] weder eine hinreichend qualifizierte Kompetenzüberschreitung der Europäischen Verträge erkennen lasse noch die Verfassungsidentität des Grundgesetzes im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG berühre.[23][24][25]

Das Verfassungsgericht Italiens macht in seiner Rechtsprechung seit dem Fall Frontini von 1973 einen Ultra-vires-Vorbehalt der eigenen Verfassung geltend, wie auch im Konflikt mit dem EuGH im Fall Taricco (2015)[26] deutlich wurde, der vom EuGH durch eine konziliante Rechtsprechung nach Wiedervorlage durch das ICC 2017 entschärft wurde – man gestand den nationalen Gerichten die Entscheidungsfreiheit in Bezug auf Rückwirkungsfragen zu.[27]

Am 6. Dezember 2016 fällte das oberste dänische Gericht (SCDK) ein Ultra-vires-Urteil gegen den Europäischen Gerichtshof.[28] Dabei ging es um ein Urteil wegen Altersdiskriminierung im Fall der Firma Ajos, einem Zivilrechtsverfahren. Das dänische Urteil sah die entsprechenden EU-Gesetze (Artikel 6, Absatz 3, EUV) als nicht vom Beitrittsgesetz Dänemarks gedeckt an, trotz anderslautender Auslegung des EuGH. Schon hier argumentierte ein nationaler oberster Gerichtshof für den Vorrang der eigenen Rechtsprechung und negierte ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs.

Das polnische Verfassungstribunal (Verfassungsgericht) stützt sich bei seiner Ablehnung der empfundenen Bevormundung durch den Europäischen Gerichtshof auch auf das vom deutschen Bundesverfassungsgericht in seiner PSPP-Entscheidung verwendete Ultra-Vires-Argument: Mit seinen Urteilen reiße der Europäische Gerichtshof Befugnisse an sich, die ihm niemand je gegeben habe. Von Kennern wird die Vergleichbarkeit der Argumente in der deutschen und polnischen Spielart allerdings in Abrede gestellt.[29]

USA und Großbritannien

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Ultra vires bezeichnet im anglo-amerikanischen Rechtskreis allgemein die Beschränkung der Rechtsfähigkeit von juristischen Personen auf ihre jeweiligen Aufgaben und Zwecke.[30]

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Einzelnachweise

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  1. Paul Gragl, Kompetenzgrenzen des EuGH, Ausbrechende Rechtsakte vor dem Hintergrund der Diskussion um die Entscheidungen „Junk“ und „Mangold“, ISBN 978-3-640-53546-0, abgerufen am 5. Mai 2021
  2. Georg Ress, Der ausbrechende Rechtsakt, Betrachtungen zu den völkerrechtlichen Grenzen des Handelns Internationaler Organisationen, Zeitschrift für öffentliches Recht 2009, 387 ff., abgerufen am 5. Mai 2021
  3. Tanja Podolski, Beschluss ein „ausbrechender Rechtsakt“, Legal Tribune Online vom 19. April 2021, abgerufen am 5. Mai 2021
  4. Zöller/Heßler, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 33. Auflage 2020, Vor § 567 ZPO, Rdnr. 7.
  5. BGH, Beschluss vom 7. März 2002, Az. IX ZB 11/02, BGHZ 150, 133.
  6. BVerwG, Beschluss vom 5. Oktober 2004, Az. 2 B 90/04.
  7. BVerfG, Beschluss vom 06. September 2016 – 1 BvR 173/15, Rdnr. 9 ff. In: bundesverfassungsgericht.de. 16. September 2016, abgerufen am 24. Mai 2021.
  8. BFH, Beschluss vom 30. November 2005, Az. VIII B 181/05, NJW 2006, 861, beck-online.
  9. BAG, Beschluss vom 8. August 2005, Az. 5 AZB 31/05, NJW 2005, 3231, beck-online.
  10. L. Fischer: Ultra-vires- und Identitätskontrolle. In: Große Hüttmann, Wehling: Das Europalexikon. 3. Auflage, Bonn 2020.
  11. BVerfGE 126, 286; 134, 366; 142, 123.
  12. Lüder Gerken, „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt, abgerufen am 5. Mai 2021
  13. Bundesverfassungsgericht: BVerfG, Beschluss vom 06. Juli 2010 – 2 BvR 2661/06. In: bundesverfassungsgericht.de. 6. Juli 2010, abgerufen am 13. Mai 2021.
  14. BVerfG, Urteil vom 5. Mai 2020, Az. 2 BvR 859/15, abgerufen am 4. Mai 2021
  15. Markus Sehl, Über die Schmerzgrenze hinaus, Legal Tribune Online vom 5. Mai 2020, abgerufen am 4. Mai 2021
  16. Universität Greifswald (Dieter Classen), Stellungnahme zum Urteil des BVerfG vom 5.5.2020 für den Europaausschuss des Deutschen Bundestages vom 21. Mai 2020, abgerufen am 11. Mai 2021
  17. Bodo Herzog, Ultra-vires-Akt vom 15. Dezember 2020, abgerufen am 12. Mai 2021
  18. Alexander Thiele, VB vom Blatt: Das BVerfG und die Büchse der ultra-vires-Pandora, Das Urteil in Sachen Anleihenkaufprogramm der EZB, Verfassungsblog vom 5. Mai 2020, abgerufen am 20. Mai 2021
  19. vgl. Luca Frenkert: Der Kompetenzkonflikt zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof – Ein europäisches Kompetenzgericht als Lösung? Westfälische Hochschule Gelsenkirchen Bocholt Recklinghausen, Recklinghäuser Beiträge zu Recht und Wirtschaft Nr. 63/2022.
  20. Martin Höpner: Ein Kompetenzgericht für die Europäische Union? Makroskop, 14. Juli 2020, S. 3.
  21. Gesetz zum Beschluss des Rates vom 14. Dezember 2020 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union und zur Aufhebung des Beschlusses 2014/335/EU, Euratom (Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz – ERatG) vom 23. April 2021, BGBl. II S. 322
  22. Beschluss (EU, Euratom) 2020/2053 des Rates vom 14. Dezember 2020 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union (Eigenmittelbeschluss 2020). In: Amtsblatt der Europäischen Union. L, Nr. 424, 15. Dezember 2020, S. 1.
  23. BVerfG, Beschluss vom 15. April 2021, Az. 2 BvR 547/21, abgerufen am 11. Mai 2021
  24. Christian Walter und Philip Nedelcu, Die Relativierung der ultra-vires-Kontrolle im Eilrechtsschutz, Verfassungsblog vom 23. April 2021, abgerufen am 11. Mai 2021
  25. BVerfG, Urteil vom 6. Dezember 2022 – BvR 547/21; 2 BvR 798/21 Rz. 128 ff., 147 ff.
  26. Marco Bassini, The Taricco Decision: A Last Attempt to Avoid a Clash between EU Law and the Italian Constitution, Verfassungsblog vom 28. Januar 2017
  27. Chiara Amalfitano, Two Courts, two Languages? The Taricco Saga Ends on a Worrying Note, Verfassungsblog vom 5. Juni 2018
  28. Mikael Rask Madsen, Henrik Palmer Olsen und Urka Iadl, Legal Disintegration? The Ruling of the Danish Supreme Court in AJOS, Verfassungsblog vom 30. Januar 2017
  29. Konrad Schuller, Deine Richter, meine Richter, In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 1. August 2021
  30. Saskia Lettmaier, Die ultra-vires-Lehre im englischen Kapitalgesellschaftsrecht im Vergleich mit der deutschen Entwicklung, abgerufen am 14. Mai 2021