Untertanenprozess – Wikipedia

Audienz am Reichskammergericht, Kupferstich, 1750

Als Untertanenprozesse bezeichnen Rechtshistoriker diejenigen Gerichtsverfahren im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, die Untertanen einzelner Reichsstände seit Beginn der Frühen Neuzeit gegen ihre reichsunmittelbare Landesherrschaft anstrengen konnten.

Entstehung und Streitgegenstände

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Zuge der Reichsreform unter Maximilian I. hatte der Reichstag zu Worms im Jahr 1495 das mittelalterliche Fehderecht abgeschafft, den Ewigen Landfrieden verkündet und als Mittel der friedlichen Konfliktlösung das Reichskammergericht geschaffen. Diesem obersten Organ der Rechtsprechung im Reich stellte König Maximilian 1498 den Reichshofrat als weitere, allein von ihm kontrollierte letzte Instanz zur Seite. Der Deutsche Bauernkrieg von 1524/25 verdeutlichte die Notwendigkeit, Wege der friedlichen Konfliktlösung zu verbessern. So entstand in seinem Gefolge ein eine umfangreiche Bauernrechtsliteratur, und 1555 schuf die Reichskammergerichtsordnung auch die materiellen Voraussetzungen dafür, dass Untertanen Klage gegen ihre Landesherrschaft erheben konnten.

Sie hatten nun die Möglichkeit, einzeln oder kollektiv an eines der beiden obersten Gerichte zu appellieren, wenn sie den Rechtsweg vor den territorialen Gerichten ausgeschöpft hatten oder diese die Annahme ihrer Klage verweigerten. Bei Kollektivklagen ging es zumeist um Rechtsstreitigkeiten zwischen Dorf- oder Stadtgemeinden und ihrer jeweiligen Landesherrschaft, etwa um Wald- und Weide-, Mastungs-, Jagd- und Fischereirechte oder um die Rechtmäßigkeit von Frondiensten, Steuern und Abgaben. Klagen von Einzelpersonen richteten sich zumeist gegen Eingriffe der Obrigkeit in tatsächlich oder vermeintlich erworbene Rechte und Privilegien oder gegen Urteile der Territorialgerichte.

Möglichkeiten und Grenzen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach Titel XLI der Reichskammergerichtsordnung von 1555 wurde das Rechtsmittel der Appellation ausdrücklich auch „armen partheien“ eröffnet, die sich die üblichen Prozessgebühren nicht leisten konnten. Ihnen sollten „advocaten und procurator zugeordnet und vergebens gedient“, das heißt Anwalt und Untersuchungsrichter kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Die Gerichtskosten sollte ein Armer erst dann zahlen, wenn er „zu besserer vermüglichkeyt keme“. Von der Klagemöglichkeit wurde reger Gebrauch gemacht. Einen Höhepunkt erreichte die Prozesswelle am Reichskammergericht in den 1590er Jahren, als jährlich etwa 700 Klagen eingereicht wurden.[1] Um 1600 galt der Untertanenprozess als die alltägliche Form bäuerlichen Widerstands gegen obrigkeitliche Maßnahmen.[2] Dagegen wurden bereits Ende des 16. Jahrhunderts Missbrauchsvorwürfe seitens der Landes- und Grundherren laut. So beschwerten sich 1586 einzelne Stände des Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreises, dass

viele mutwillige untertanen sich wider fugh und recht gegen ir von Gott verordnete obrigkeit ufflehnen und wan sie durch dieselbige obrigkeit ires ungehorsams und frevels halben gestrafft, sie alsbalt beschwerliche prozessen am kammergericht und des mehrer teil et falsis narratis außsprengen [d.h.: mit falschen Angaben anstrengen], dadurch dan ir mutwill gesteift und gutte polizei nicht voll zu underhalten“.[3]

Die Reichsfürsten mussten schon die Tatsache, dass es überhaupt eine Appellationsinstanz jenseits ihrer Zuständigkeit gab, als Einschränkung ihrer Souveränität verstehen. Sie versuchten daher vielfach, beim Kaiser ein Privilegium de non appellando zu erwirken. Als privilegium limitatum beschränkte dieses das Appellationsrecht der Untertanen entweder auf bestimmte Rechtsfälle oder auf solche ab einem gewissen Streitwert. Als privilegium illimitatum versperrte es ihnen den Weg zu einem der Reichsgerichte vollständig, es sei denn, die Territorialgerichte hätten zuvor die Annahme ihres Falles verweigert. Den Kurfürsten hatte der Kaiser dieses Privileg bereits in der Goldenen Bulle zugestanden; fast alle größeren Reichsstände erhielten es bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Aber auch sie schufen nun oberste Appellationsgerichtshöfe als letzte Instanz. Den Bewohnern der kleinen und mittleren Territorien stand der Weg zu den Reichsgerichten weiterhin offen.

Trotz der Ausnahmen durch das Privilegium de non appellando schuf die Möglichkeit des Untertanenprozesses im römisch-deutschen Reich bereits zu einem frühen Zeitpunkt eine relativ moderne Rechtswegegarantie.[4] Zudem wurde die Spruchpraxis des Reichskammergerichts in einer umfangreichen Bauernrechtsliteratur dargestellt, zusammengefasst, kommentiert und verbreitet. Beides trug nach heutiger Expertensicht dazu bei, dass es nach dem Bauernkrieg in Deutschland – anders als etwa in Frankreich oder England – kaum noch zu größeren Aufstandsbewegungen der Landbevölkerung kam.[5] Es bildete sich ein Rechtsbewusstsein aus, das nicht in der Fehde, sondern in einem nach festen Regularien ausgetragenen Rechtsstreit das letzte Mittel der innerstaatlichen Konfliktbewältigung und Friedenssicherung sah. Dass dem so war, zeigt sich an der Häufigkeit, mit der die Reichsgerichte in Anspruch genommen wurden.

Allein das Reichskammergericht wurde in den rund 300 Jahren seines Bestehens ca. 80.000 Mal[1] angerufen. Dazu kamen die Verfahren vor dem Reichshofrat in Wien, von denen ein Großteil Untertanenprozesse waren. Das kaiserliche Gericht in Wien wurde seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von den süddeutschen, katholischen Untertanen und Ständen bevorzugt, da zum einen seine Richterstellen rein katholisch besetzt waren und da es zum anderen in dem Ruf stand, schneller, effizienter und vor allem häufiger zuungunsten der Landesherren zu entscheiden als das von den Ständen mitkontrollierte Reichskammergericht. Dieses wurde bereits von den Zeitgenossen wegen seiner Schwerfälligkeit kritisiert, zumal sich die Ständevertreter oft gegenseitig blockierten. Einzelne Verfahren dauerten Jahrzehnte oder gar ein Jahrhundert. Die neuere Forschung hat jedoch ergeben, dass beide Reichsgerichte in den meisten Fällen relativ zügig entschieden.

Da das Reichskammergericht paritätisch mit Katholiken und Protestanten besetzt war, wurde es öfter als der Reichshofrat von den Protestanten aus dem Norden und Osten des Reichs bemüht. Damit trug es nach heutiger Forschungsmeinung zur Integration der seit dem Hochmittelalter reichsfernen Gebiete Niederdeutschlands in das Reich bei. Der Historiker Gerhard Oestreich sah in der Schaffung einer Rechtswegegarantie durch den Untertanenprozess auch einen Faktor, der die Entstehung eines deutschen Nationalbewusstseins gefördert hat:

Reichspatriotismus und Kaiserverehrung treffen sich im Bewusstsein des Rechtsschutzes gegen Willkür und Despotismus durch die Reichsgerichte, Reichskammergericht und Reichshofrat, die über Religionsfreiheit, Auswanderungsrecht, Schutz des Eigentums, persönliche Freiheit, soweit sie damals rechtlich bestand, Briefgeheimnis und geordnetes Gerichtsverfahren wachten.[6]

Instanzen wie die Reichsgerichte verdeutlichten den Untertanen also ihre Zugehörigkeit zu einer staatlichen, rechtlichen und kulturellen Einheit, die das Territorium ihres jeweiligen Landesherrn überwölbte.

  • Johannes Arndt, Der Fall „Meier Cordt contra Graf zur Lippe“. Ein Untertanenprozeß vor den Territorial- und Reichsgerichten zwischen 1680 und 1720 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, 20), Wetzlar 1997.
  • Bernhard Diestelkamp, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichkammergerichtsforschung, 1), Wetzlar 1985.
  • Ralf Fetzer, Untertanenkonflikte im Ritterstift Odenheim vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende des Alten Reiches (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg: Reihe B, Forschungen 150), Stuttgart 2002.
  • Julia Maurer, Der „Lahrer Prozeß“ 1773–1806. Ein Untertanenprozeß vor dem Reichskammergericht (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 30), Köln, Weimar, Wien 1996.
  • Gerhard Oestreich, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des Alten Reiches (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, 11), 4. Aufl., München 1982.
  • Kurt Perels, Die Justizverweigerung im alten Reiche seit 1495 (PDF; 4,2 MB), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 25, 1904, S. 1–51.
  • Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, besonders S. 237 f.
  • Rita Sailer, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 33), Köln, Weimar, Wien 1999.
  • Martina Schattkowsky: „…daß die Untertanen außerhalb Rechtens in nichts willigen und eingehen wollen“. Gerichtsprozesse in einem sächsischen Rittergut im 16. und 17. Jahrhundert. In: Jan Peters (Hrsg.): Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften. (Historische Zeitschrift, Beiheft 18). München 1995, S. 385–400 (Vorschau bei Google Bücher).
  • Winfried Schulze, Reichstage und Reichssteuern im späten 16. Jahrhundert (PDF; 1,9 MB), in: Zeitschrift für Historische Forschung 2, 1975, S. 43–58.
  • Wolfgang Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens, Aalen 1973.
  • Heinz Schilling, Höfe und Allianzen. Deutsche Geschichte von 1648 bis 1763 (Siedler Deutsche Geschichte, 5), Berlin 1989, besonders S. 114–116.
  • Werner Troßbach, Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648–1806 (Sozialgeschichtliche Bibliothek), Weingarten 1987.
  • Siegrid Westphal, „Weshalber wir mit diesem ganz unerträglich gewordenen Weibe mancherlei unangenehme Beschäftigungen haben müssen“. Ein individueller Untertanenkonflikt zwischen Herzogin Anna Amalia und ihrer Untertanin Maria Elisabeth Döpelin, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 50, 1996, S. 163–200.
  1. a b Schilling, Höfe und Allianzen, S. 114
  2. so Georg Schmidt, Der Dreißigjährige Krieg, München 1995, S. 16 f
  3. zit. nach Schulze, Reichstage S. 43–58
  4. siehe hierzu: Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 296–297
  5. siehe hierzu: Georg Schmidt, Der Dreißigjährige Krieg, München 1995, S. 16 und Schilling, Höfe und Allianzen, S. 117
  6. Oestreich, Verfassungsgeschichte, S. 43