Zigeunertonleiter – Wikipedia

Zigeunertonleiter ist der fachsprachliche Überbegriff für heptatonische Tonleitern in folkloristischer und klassischer Musik, die durch zwei übermäßige Sekundschritte gekennzeichnet sind. Analog zu den Tongeschlechtern Dur und Moll unterscheidet man Zigeuner-Dur und Zigeuner-Moll.

Begriffsgeschichte

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Der Begriff leitet sich davon ab, dass die für die Dur-Moll-Tonalität ungewöhnlichen Tonleitern mit übermäßigen Sekundschritten von westlichen Musikern mit orientalischer, allgemein mit exotischer Musik und speziell auch mit der Musik der Roma und Sinti assoziiert wurden. In der westlichen Musik wurden sie besonders durch Franz Liszt (Ungarische Rhapsodien) bekannt.

Ähnliche Skalenstrukturen finden sich zwar auch als fakultative Intonationsvarianten des phrygischen Modus (modo frígio) im spanischen Flamenco, jedoch ohne hier terminologisch besonders benannt zu werden. Lediglich das im Kontext der Flamencomusik gelegentlich verwendete Adjektiv gitano (m.) bzw. gitana (f.) (wie beispielsweise in Rumba gitana) verweist sowohl auf die ethnische Genese eines Flamenco-Palos, als auch auf dessen zumeist phrygischen Modus.

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Die Zigeuner-Moll-Tonleiter, auch ungarische Tonleiter genannt, ist eine Variante der Molltonleiter und entspricht in den Tonabständen einem harmonischen Moll mit erhöhter vierter Stufe. Dadurch entsteht ein zweiter Hiatus (übermäßige Sekunde) zwischen der dritten und vierten Stufe, der in der unmittelbaren melodischen Aufeinanderfolge bei westlich sozialisierten Hörern einen orientalischen Anklang erzeugt.

Ein Vergleich mit dem Hiatus zwischen sechster und siebter Stufe des sogenannten harmonischen Moll bietet sich zwar augenscheinlich an, entspricht aber insbesondere im Barock und in der Klassik nicht der kompositorischen Praxis, die die erhöhte siebte Stufe als melodisch legitimierten Leitton zum oktavierten Grundton interpretierte und den seinerzeit verpönten Hiatus durch die Melodieführung (beispielsweise in a-Moll: steigend F-E-Gis-A statt E-F | Gis-A oder fallend Gis-A-F-E statt A-Gis | F-E.) neutralisierte. Ließ sich die unmittelbare Aufeinanderfolge der sechsten und siebten Stufe nicht umgehen, wurde die sechste Stufe erhöht. Diese Praxis hat sich dann später im musiktheoretischen Konstrukt der aufwärtsgerichteten melodischen Molltonleiter niedergeschlagen.

Georges Bizet verwendet sowohl das Zigeuner-Moll als auch das Zigeuner-Dur für das „Schicksalsmotiv“ in seiner Oper Carmen.

C-Zigeuner-Dur; Hörbeispiel/?

Die Zigeuner-Dur-Tonleiter besitzt eine Durterz und wird gelegentlich im Kontext pseudo-orientalischer Musik auch arabische Tonleiter genannt. Sie besteht aus zwei identisch strukturierten Tetrachorden mit jeweils in der Mitte liegendem Hiatus, ist also symmetrisch aufgebaut. Das Zigeuner-Dur kann als plagale Form des Zigeuner-Molls (beginnend auf der 5. Stufe) aufgefasst werden.

Die Tonleiter kann gebildet werden, indem man die siebente Stufe einer phrygischen Tonleiter mit Durterz um einen Halbton erhöht. Damit entsteht wie bei der klassischen Dur-Tonleiter ein Leitton. Eine andere Art zur Bildung von Zigeuner-Dur besteht darin, die zweite und die sechste Stufe der Dur-Tonleiter um einen Halbton zu erniedrigen, wodurch abwärtsführende Leittöne zur ersten und fünften Stufe entstehen.

Ableitung aus Tetrachorden

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Franz Liszt, der sich auch intensiv mit der Musiktheorie im antiken Griechenland auseinandergesetzt hatte, leitet die Zigeunertonarten „… aus dem altgriechischen ‚chromatischen Tetrachord‘ ab. Dieser letztere besteht nämlich aus einem kleinen Terzschritt und zwei aufeinanderfolgenden Halbtonschritten. Die kleine Terz stimmt aber im Klang mit der übermäßigen Sekunde überein, mit einem Tonintervall, das die westeuropäische Theorie nur deshalb benötigt, weil in der Fiktion der Skala (d. h. Tonleiter) keine Stufe übersprungen werden darf.“[1]

Setzt man die kleine Terz mit der übermäßigen Sekunde (Hiatus) gleich, so lässt sich der Bau der Zigeunertonleitern mithilfe von Tetrachorden der Struktur Halbton-Hiatus-Halbton erklären:

  • Das C-Zigeuner-Dur besteht aus den beiden disjunkten (durch einen Ganzton getrennten) Tetrachorden c-des-e-f und g-as-h-c.
  • Das c-Zigeuner-Moll besteht aus den beiden konjunkten (durch einen gemeinsamen Ton) verbundenen Tetrachorden d-es-fis-g und g-as-h-c, wobei die Tonleiter durch ein unten angefügtes c vervollständigt wird.

Es gibt immer wieder Forderungen, auch historisch gewachsene Wortkonstruktionen aus dem Sprachgebrauch verschwinden zu lassen, wenn sie als diskriminierend empfundene Begriffe enthalten, selbst dann, wenn sie – wie im konkreten Fall – keine abwertende Konnotation aufweisen. Den Begriff entstand im 19. Jahrhundert aus einer als bürgerlichen Begeisterung für die Zigeunerromantik und den damit verbundenen musikalischen Exotismus[2][3]

Derlei Forderungen folgen nur selten Vorschläge zu sinnvollen sprachlichen Alternativen, die dem political correctness, genügen, aber auch dem Bedürfnis von Musikern nach historischer Kontinuität der musikalischen Terminologie zu genügen vermögen.

Einzelnachweise

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  1. István Szelényi: Der unbekannte Liszt. In: Klara Hamburger (Hrsg.): Franz Liszt – Beiträge von ungarischen Autoren. Reclam, Leipzig 1978, ISBN 963-13-0088-9, S. 276.
  2. DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Abgerufen am 19. Januar 2022.
  3. Martin Losert, Karen Schlimp: Klangwege: Improvisation anregen - lernen - unterrichten. LIT Verlag Münster, 2019, ISBN 978-3-643-50908-6 (google.de [abgerufen am 19. Januar 2022]).