Jean Eustache – Wikipedia

Jean Eustache (* 30. November 1938 in Pessac, Aquitanien, Frankreich; † 5. November 1981 in Paris, Frankreich) war ein französischer Filmregisseur und Filmeditor. Eustache drehte von 1963 bis 1980 insgesamt zwölf Filme, darunter Spiel- und Dokumentarfilme von unterschiedlichster Länge. Sein bekanntester Film ist Die Mama und die Hure (La Maman et la putain) von 1973 mit Jean-Pierre Léaud.

Knapp zehn Jahre jünger als die meisten Regisseure der Nouvelle Vague, begann auch Eustache seine Laufbahn als Cineast im Paris der späten 50er Jahre. Aufgewachsen als Kind in Pessac und als Jugendlicher in Narbonne, war er 1958 nach Paris gezogen.[1] Wenn er auch nur selten selbst für die damals wichtigste französische Filmzeitschrift Cahiers du cinéma schrieb,[2] so war er doch häufig in deren Redaktionsräumen und beteiligte sich an den dortigen Diskussionen. Anfang der 1960er Jahre arbeitete Eustache für eine Abteilung des französischen Fernsehsenders ORTF, den „Service de la Recherche de l'ORTF“.[3] Sein Filmdebüt gab er 1964 mit dem Kurzfilm Les mauvaises fréquentations (Der schlechte Umgang). Es brauchte annähernd zehn weitere Jahre, ehe er nach mehreren Kurz- und Dokumentarfilmen 1972 seinen ersten abendfüllenden Spielfilm La Maman et la putain drehte. Dessen biographisch inspirierte Handlung erzählt von einem Dreiecksverhältnis, der Liebe eines Mannes (gespielt von Jean-Pierre Léaud) zu zwei Frauen (Bernadette Lafont, Françoise Lebrun).

Bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 1973 wurde La Maman et la putain sowohl mit dem „Großen Preis der Jury“ als auch mit dem „FIPRESCI-Preis“ der Internationalen Filmkritik ausgezeichnet. Der 220-minütige Film hatte einen relativ großen Erfolg beim Publikum[4] und ermöglichte es Eustache, kurz darauf einen weiteren Spielfilm zu drehen. In Mes petites amoureuses (Meine kleinen Geliebten) arbeitete der Regisseur erstmals unter professionellen Bedingungen auf 35mm Farbfilm. Dieser Film erzählt die Geschichte eines pubertierenden Jungen (dargestellt von Martin Loeb), der nach einem glücklichen Leben bei seiner Großmutter in die Tristesse des französischen Südens zurückkehrt, dem kleinstädtischen Unterschichtdasein seiner Mutter. Weil dieser Film ein kommerzieller Misserfolg wurde, gelang es Eustache nicht, noch einen weiteren Spielfilm zu finanzieren. So entstanden seine folgenden Filme wiederum unter finanziell prekären Umständen. Eustaches letzter Film, Les Photos d’Alix, wurde 1982 mit einem César in der Kategorie Bester Kurzfilm ausgezeichnet – ein Erfolg, den er selbst nicht mehr erlebte.

Eustache starb im November 1981 durch Suizid.

Obwohl seine eigenen zwölf Filme ein sehr heterogenes Bild ergeben – Filme mit einer Länge von achtzehn Minuten bis zu dreieinhalb Stunden, Dokumentar- neben Spielfilmen, wird Jean Eustache in filmhistorischen Darstellungen häufig einer Generation französischer Cinéasten zugeordnet, zu der neben ihm Maurice Pialat, Philippe Garrel, Jacques Doillon, André Téchiné und andere gezählt werden. Das online-Magazin Senses of Cinema widmete 2018 dieser „Second Generation“, die sie zwischen dem Ende der Nouvelle Vague und dem Hervortreten einer neuen Generation französischer Filmemacher wie Leos Carax, Olivier Assayas und Claire Denis Mitte bis Ende der 1980er Jahre ansiedelt, ein umfangreiches Dossier. Schon in der Einleitung zu dem Dossier wird allerdings gefragt, ob die genannten Regisseure mehr miteinander verbindet, als ihr ungefähr „zeitgleiches Erscheinen auf der cinéastischen Bühne“. Immerhin könne man sagen, dass die Mehrzahl der Filme dieser Regisseure „sonderbarer, gewagter und etwas düsterer“ seien als die der Nouvelle-Vague-Generation.[5]

Würdigungen, Hommagen

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2005 stellte Jim Jarmusch seinem Film Broken Flowers die Widmung „for Jean Eustache“ voran.

Die zwei langen Spielfilme Eustaches wurden 2022 in restaurierten Versionen auf Festivals präsentiert:
La Maman et la Putain bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes, wo er zur Eröffnung der Reihe „Cannes Classics“ lief,[6]
Mes petites amoureuses bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig, wo er in der Reihe „Venezia Classici“ lief.[7]

  • 1964: Les mauvaises fréquentations auch bekannt als Du côté de Robinson (42 Min.)
  • 1966: Le Père Noël a les yeux bleus (47 Min.)
  • 1968: La Rosière de Pessac (55 Min.) (Dokumentarfilm)
  • 1970: Le cochon (50 Min.) zusammen mit Jean-Michel Barjol (Dokumentarfilm)
  • 1971: Numéro Zéro Fernsehfassung als Odette Robert (107 Min.) (Dokumentarfilm)
  • 1973: Die Mama und die Hure (La Maman et la putain) (217 Min.)
  • 1974: Meine kleinen Geliebten (Mes petites amoureuses) (123 Min.)
  • 1977: Une sale histoire (50 Min.; Teil 1, „fiction“: 28 Min.; Teil 2, „documentaire“: 22 Min.)
  • 1979: La Rosière de Pessac (67 Min.) (Dokumentarfilm)
  • 1980: “Le Jardin des Délices” de Jérôme Bosch (34 Min.) (TV-Film der Reihe Les Enthousiastes auf Antenne 2)
  • 1980: Offre d’emploi (19 Min.) (TV-Film der Reihe Contes modernes auf Antenne 2)
  • 1980: Les photos d’Alix (18 Min.)

Als Drehbuchautor

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  • 1970: Aussi loin que mon enfance, Regie: Marilù Parolini, Drehbuch: Eustache und Parolini
  • Frieda Grafe: Ein leidenschaftlicher Spiegel - Jean Eustache - Zur Aufführung einiger seiner Filme im Münchner Filmmuseum. Erstveröffentlichung in: Süddeutsche Zeitung vom 2. Dezember 1998. In: Schriften, 3. Band. Verlag Brinkmann & Bose, Berlin 2003. ISBN 3-922660-82-7. S. 145–147.
  • Alain Philippon: Jean Eustache. Erstveröffentlichung: 1986; Wiederveröffentlichung: Cahiers du cinéma, Paris 2005, ISBN 978-2-8664-2428-2.
  • Jérôme d'Estais: Jean Eustache ou la traversée des apparences. LettMotif, La Madeleine 2015, ISBN 978-2-3671-6115-0.
  • Luc Béraud: Au travail avec Eustache. Institut Lumière / Actes Sud, 2017, ISBN 978-2-330-07253-7.

Einzelnachweise

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  1. Alain Philippon: Jean Eustache (s. Literatur), S. 11.
  2. Laut Cahiers du cinéma vom Juni 2023, S. 15, erschienen in der Zeitschrift drei Texte von Eustache. Wiederabgedruckt ist dort eine Kritik zu Jean-Daniel Pollets Beitrag zum Episodenfilm Paris vu par...: Rue Saint-Denis aus November 1965.
  3. Diese Angabe gemäß der kurzen Biofilmografie im Informationsblatt des Internationalen Forums des Jungen Films (abgerufen am 12. Mai 2023), Berlin 1973, wo La Maman et la putain seine deutsche Erstaufführung hatte.
  4. Bei der „Erstauswertung“ sahen den Film in Paris ca. 65.000 Zuschauer (gem. Luc Béraud: Au travail avec Eustache (s. Literatur), S. 95); bis zum Jahr 2017 sahen den Film in Frankreich ca. 343.000 Zuschauer (gemäß jpbox-office.com (abgerufen am 19. Juni 2023)).
  5. David Heslin: The Second Generation: French Cinema After the New Wave (Introduction); Senses of Cinema vom Oktober 2018; online verfügbar auf der Website sensesofcinema.com (englisch; abgerufen am 20. Mai 2023). – Die Zitate im Original: „What these filmmakers shared was a chronological appearance on the scene a few years after the early peak of the Nouvelle Vague.“ und: „Its output, which was often stranger, more daring and somewhat darker than the often joyful experimentation of their predecessors.“ – Der Text zu Eustache in dem Dossier ist dem Film Mes petites amoureuses gewidmet.
  6. Jacques Mandelbaum: Au festival de Cannes, « La Maman et la Putain », cœur brûlant de l’œuvre de Jean Eustache; Le Monde vom 17. Mai 2022; online verfügbar bei lemonde.fr (französisch; abgerufen am 19. Mai 2023).
  7. Jérémie Oro: “Mes petites amoureuses” de Jean Eustache sera présenté en version restaurée à la Mostra de Venise; Les Inrockuptibles vom 25. Juli 2022; online verfügbar bei lesinrocks.com (französisch; abgerufen am 19. Mai 2023).