Sulfonylharnstoffe – Wikipedia

Grundstruktur eines Sulfonylharnstoffes. Die Sulfonylharnstoffgruppe ist rot die variablen Reste sind blau markiert.

Sulfonylharnstoffe sind orale Antidiabetika, Arzneistoffe, die bei Diabetes mellitus Typ 2 (Zuckerkrankheit) eingesetzt werden. Sie ermöglichen die erhöhte Freisetzung von Insulin durch Blockade von Kalium-Kanälen in den β-Zellen der Bauchspeicheldrüse. Sie sind strukturell mit den Sulfonamiden verwandt. Einige Sulfonylharnstoffe sind auch als Herbizid wirksam.

Einsatz als Antidiabetikum

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Sulfonylharnstoffe stimulieren die Insulinfreisetzung aus den β-Zellen des Pankreas unabhängig von der Blutglucosekonzentration (insulinotrope Wirkung). Sie blockieren die ATP-sensitiven Kaliumkanäle der β-Zelle durch Bindung an spezifische SUR-1 Bindungsstellen. Als Folge der Depolarisation der Zelle öffnen sich spannungsgesteuerte Calciumkanäle. Der Calciumeinstrom führt zu einer Entleerung des Insulins aus den Speichervesikeln und somit zu einer erhöhten Insulinfreisetzung ins Blut. Sie sind wirksam zur Risikosenkung mikrovaskulärer Ereignisse (Glibenclamid). Gliquidon wird als einziger Vertreter der Sulfonylharnstoffe nur über die Leber abgebaut und kann daher bei Niereninsuffizienz gegeben werden.[1][2]

Tolbutamid, ein Vertreter der Sulfonylharnstoffe

Erste Antidiabetika auf Basis von Sulfonylharnstoffen kamen um 1956 auf den Markt, wichtig war die Entwicklung bei Boehringer Mannheim unter Erich Haack (und zuvor seine Entwicklungen bei der Pharmafirma von Heyden in Radebeul), die zu Oranil (Carbutamid, klinische Tests Hellmuth Kleinsorge) führten, es kamen aber etwa gleichzeitig mehrere andere Medikamente auf den Markt. Die blutzuckersenkende Wirkung von Sulfonamiden stellte zuerst in den 1930er Jahren in Frankreich Auguste Loubatières fest. Die blutzuckersenkende Wirkung wurde zunächst als störende Nebenwirkung der im Vordergrund stehenden antibiotischen Wirkung betrachtet.

Sulfonylharnstoffe können zu einer Unterzuckerung führen, eventuell auch zu gastrointestinalen Beschwerden. Sie fördern die Gewichtszunahme durch die antilipolytische Wirkung des Insulins. Seltene Nebenwirkungen sind Störungen der Blutbildung oder hepatische Cholestase (wie bei den Sulfonamiden).

Sulfonylharnstoffe erzwingen eine Insulinausschüttung aus den β-Zellen des Pankreas, damit können sie zur Hypoglykämie führen. Weiterhin deuten Studien darauf hin, dass Sulfonylharnstoffe zu einem Versagen der β-Zellen führen können.[3][4][5]

Nach neuesten Studien kann es zu kardialen Risiken durch Sulfonylharnstoffe kommen.[6]

Kontraindikationen

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Kontraindiziert sind Sulfonylharnstoffe und deren Derivate bei Diabetes mellitus Typ 1, schwerer Leber- bzw. Niereninsuffizienz (dies gilt nicht für Gliquidon und Repaglinid) und Pankreatektomie. Bei Schwangerschaft müssen Diabetikerinnen auf Insulin umgestellt werden. Weitere Kontraindikationen bestehen bei größeren operativen Eingriffen oder bei schweren Infekten.[7]

Der bekannteste Vertreter ist Glibenclamid. Glimepirid hat eine längere Wirkdauer als Glibenclamid. Ältere, deutlich schwächer wirksame Sulfonylharnstoffe sind Tolbutamid und Carbutamid.

Sulfonylharnstoffe der ersten Generation:

Sulfonylharnstoffe der zweiten Generation:

Sulfonylharnstoffe der dritten Generation:

Einsatz als Herbizid

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Allgemeine Strukturformel der Sulfonylharnstoff-Herbizide
Y = N oder CH

Die Sulfonylharnstoffe (SU) sind eine der wichtigsten Herbizidgruppen. 2010 wurden über 30 % der deutschen Getreide-Anbauflächen mit ihnen behandelt.[8]

Die Einführung der Sulfonylharnstoffe führte zu einer Reduzierung der Aufwandmengen von vorher etwa 2000 g·ha−1 auf 3–60 g·ha−1. Dieses Niveau ist bis heute unübertroffen.[8]

Im Vergleich zu anderen Wirkstoffklassen der Herbizide (Wuchsstoffe, Triazine, ACCase-Hemmer) gibt es bei den Sulfonylharnstoffen eine große Variabilität in den Wirkungsspektren.[8]

Die Sulfonylharnstoffe sind schwach sauer. Abhängig vom pH-Wert liegen sie entweder als Anion oder neutral vor. Bei Zimmertemperatur sind sie kristalline Feststoffe mit extrem niedrigem Dampfdruck, weshalb sich trockene Formulierungen anbieten. Viele Sulfonylharnstoff-Herbizide sind als wasserdispergierbare Granulate (WG) formuliert.[8]

Aufgrund ihres hochspezifischen Wirkmechanismus als Hemmer der Acetolactat-Synthase sind die Sulfonylharnstoffe durch Punktmutationen des Zielenzyms resistenzgefährdet.[8]

Name Einsatzbereich:
Selektivität für[9]
Aufwandmenge in g·ha−1[9] Hersteller
Amidosulfuron Getreide 30–60 Bayer CropScience
Azimsulfuron Reis DuPont
Bensulfuron-methyl Reis 20–75 DuPont
Chlorimuron-ethyl Sojabohnen 8–13 DuPont
Chlorsulfuron Getreide 9–25 DuPont
Cinosulfuron Reis 20–40 Syngenta
Cyclosulfamuron
Ethametsulfuron-methyl Raps 15–20 DuPont
Ethoxysulfuron
Flazasulfuron Obst, Wein, Nichtkulturland 15–20 Ishihara
Foramsulfuron
Flupyrsulfuron-methyl-Na Getreide (spez. gegen Acker-
Fuchsschwanz, Windhalm)
Halosulfuron-methyl Mais, Grünland 18–25 Nissan
Imazosulfuron Reis, Grünland 50–100 Takeda
Iodosulfuron
Mesosulfuron Getreide (spez. gegen
Acker-Fuchsschwanz)
Metsulfuron-methyl Getreide, Reis
Nichtkulturland
3–8
14–168
DuPont
Nicosulfuron Mais 35–70 DuPont / Ishihara
Oxasulfuron
Primisulfuron-methyl Mais 20–40 Syngenta
Prosulfuron Getreide, Mais 20–40 Syngenta
Pyrazosulfuron-ethyl Reis 15–30 Nissan
Rimsulfuron Kartoffeln, Mais 5–25 DuPont
Sulfometuron-methyl Nichtkulturland, Forst 26–420 DuPont
Sulfosulfuron Getreide (spez. gegen Trespe,
Quecke, Windhalm)[10]
Monsanto
Thifensulfuron-methyl Grünland 2–30 DuPont
Triasulfuron Getreide 10–30 Syngenta
Tribenuron-methyl Getreide 9–18 DuPont
Trifloxysulfuron-Natrium
Triflusulfuron-methyl Rüben 15–30 DuPont

Einzelnachweise

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  1. S. Matthaei u. a.: Medikamentöse antihyperglykämische Therapie des Diabetes mellitus Typ 2. (Memento vom 19. November 2012 im Internet Archive) (PDF; 815 kB), In: Diabetologie. 4, 2009, S. 32–64.
  2. Onmeda: Sulfonylharnstoffe (Memento vom 9. August 2010 im Internet Archive)
  3. Richard K. Bernstein: Dr. Bernstein's Diabetes Solution. 1997, ISBN 0-316-09906-6, S. 225.
  4. Y. N. Chen, S. Y. Chen, L. J. Zeng, J. M. Ran, M. Y. Wu: Progressive decrease of proinsulin secretion in sulphonylurea-treated type 2 diabetes. In: Br J Biomed Sci. 62(1), 2005, S. 5–8. PMID 15816204.
  5. A. Takahashi, K. Nagashima, A. Hamasaki, N. Kuwamura, Y. Kawasaki, H. Ikeda, Y. Yamada, N. Inagaki, Y. Seino: Sulfonylurea and glinide reduce insulin content, functional expression of K(ATP) channels, and accelerate apoptotic beta-cell death in the chronic phase. In: Diabetes Res Clin Pract. 77(3), Sep 2007, S. 343–350. Epub 2007 Feb 20. PMID 17316868.
  6. Typ-2-Diabetes mellitus: Kardiale Risiken von Sulfonylharnstoffen. In: Deutsches Ärzteblatt. 4. Dezember 2009. Studie dazu: Ioanna Tzoulaki, Mariam Molokhia u. a.: Risk of cardiovascular disease and all cause mortality among patients with type 2 diabetes prescribed oral antidiabetes drugs: retrospective cohort study using UK general practice research database. In: BMJ. 339, 2009, S. b4731.
  7. Klaus Aktories (Hrsg.): Spezielle und allgemeine Pharmakologie und Toxikologie. 9. Auflage. Urban & Fischer, 2005, ISBN 3-437-42521-8.
  8. a b c d e Hans G. Drobny, Martin Schulte, Harry J. Strek: 25 Jahre Sulfonylharnstoff-Herbizide – ein paar Gramm veränderten die Welt der chemischen Unkrautbekämpfung. In: Julius-Kühn-Archiv. Band 434, 2012, S. 21–33, doi:10.5073/jka.2012.434.002 (PDF).
  9. a b Modern Crop Protection Compounds. Chapter 2: Acetohydroxyacid Synthase Inhibitors (AHAS/ALS). doi:10.1002/9783527619580.ch2
  10. Gebrauchsanleitung Monitor (Memento vom 4. März 2016 im Internet Archive)