Tyrothricin – Wikipedia

Strukturformel
Strukturformel von Tyrocidin A
Strukturformel der Komponente Tyrocidin A
Allgemeines
Freiname Tyrothricin
Summenformel vgl. Tabelle
Externe Identifikatoren/Datenbanken
CAS-Nummer 1404-88-2
EG-Nummer 215-771-0
ECHA-InfoCard 100.014.337
PubChem 452550
DrugBank DB13503
Wikidata Q419421
Arzneistoffangaben
ATC-Code
Wirkstoffklasse

Antibiotika

Eigenschaften
Molare Masse vgl. Tabelle
Sicherheitshinweise
Bitte die Befreiung von der Kennzeichnungspflicht für Arzneimittel, Medizinprodukte, Kosmetika, Lebensmittel und Futtermittel beachten
GHS-Gefahrstoffkennzeichnung[1]
keine GHS-Piktogramme

H- und P-Sätze H: keine H-Sätze
P: keine P-Sätze
Toxikologische Daten

> 3000 mg·kg−1 (LD50Mausoral)[2]

Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet.
Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen (0 °C, 1000 hPa).

Tyrothricin ist ein Gemisch verschiedener antibakteriell wirksamer linearer und cyclischer Polypeptide aus den Gruppen der Gramicidine und Tyrocidine. Sie werden endotoxinartig durch den anaeroben sporenbildenden Bacillus aneurinolyticus (Synonym: Bacillus brevis) gebildet. Der Wirkungsbereich umfasst vorwiegend grampositive Bakterien, aber auch einige gramnegative Bakterien und verschiedene Pilzarten, wie beispielsweise Candida albicans.

Tyrothricin wird den Polypeptid-Antibiotika zugeordnet, der unter anderem auch Actinomycin, Bacitracin und die Polymyxine angehören.

Zusammensetzung

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Tyrothricin enthält 50 bis 70 % Tyrocidine und 25 bis 50 % Gramicidine, die insgesamt mindestens 85 % des Wirkstoffs ausmachen.[3] Daneben kommen in kleinen Mengen weitere strukturverwandte Polypeptide vor.

Struktur der Tyrocidine in Tyrothricin
Grundgerüst
D-PheL-ProXYL-AsnL-GlnZL-ValL-OrnL-Leu
└────────────────────────────────────────────┘
Tyrocidin Summenformel Molmasse CAS-Nr. X Y Z
A C66H88N13O13 1271 1481-70-5 L-Phe D-Phe L-Tyr
B C68H89N14O13 1311 865-28-1 L-Trp D-Phe L-Tyr
C C70H90N15O13 1350 3252-29-7 L-Trp D-Trp L-Tyr
D C72H91N16O12 1373 19716-16-6 L-Trp D-Trp L-Trp
E C66H88N13O12 1255 19659-41-7 L-Phe D-Phe L-Phe
Struktur der Gramicidine in Tyrothricin
Grundgerüst
HCO–XGlyL-AlaD-LeuL-AlaD-ValL-ValD-ValL-Trp–
D-LeuYD-LeuL-TrpD-LeuL-Trp-NH-CH2-CH2-OH
Gramicidin Summenformel Molmasse X Y
A1 C99H140N20O17 1882 L-Val L-Trp
A2 C100H142N20O17 1896 L-Ile L-Trp
C1 C97H139N19O18 1859 L-Val L-Tyr
C2 C98H141N19O18 1873 L-Ile L-Tyr
Bakteriostatische bzw.
bakterizide Wirkung gegen
Hemmdosis
in μg/ml
Staphylococcus aureus MSSA 04
Staphylococcus aureus MRSA 04
Staphylococcus haemolyticus 04
Streptococcus pyogenes 00,5
Streptococcus viridans 01 – 5
Enterococcus faecalis 02
Diplococcus pneumonia 01
Corynebakterium spp. 02
Clostridia 00,1 – 10
Candida albicans 16
Candida parapsilosis 32

Tyrothricin ist ein antimikrobielles Polypeptid, das die Zellmembran verschiedener Mikroorganismen irreversibel schädigt.[4] Es ähnelt in seiner Wirkweise sehr den antimikrobiellen Peptiden (englisch host defense peptides), wie sie aus Eukaryoten bekannt sind (z. B. Defensin und Cathelicidin). Aufgrund dieser Ähnlichkeit werden sie heute vermehrt auch dieser Gruppe zugeordnet (nicht-ribosomal synthetisierte antimikrobielle Polypeptide).[5]

Als Gemisch zweier aktiver Substanzgruppen wirkt Tyrothricin auf zwei Wegen auf die mikrobielle Zellwand:

  • Tyrocidine lagern sich in die Zellmembran von Mikroorganismen ein und zerstören damit deren Funktion. Der genaue Ort und Mechanismus sind bisher unbekannt.
  • Gramicidine bilden kationenselektive Kanäle in der Zellmembran, durch die monovalent geladene Kationen (wie z. B. Kalium, Natrium) die Membran passieren können. Hierbei wird unter anderem der Ionengradient zwischen Cytoplasma und extrazellulärem Medium aufgehoben.

Resistenzanalysen zeigten, dass Tyrothricin trotz des jahrzehntelangen Einsatzes eine ungebrochen hohe Wirksamkeit selbst gegen Staphylococcus aureus-Stämme mit multipler Antibiotikaresistenz (MRSA) zeigt.[6][7][8] Es bestehen zudem keine Kreuzresistenzen mit Polymyxin B und Colistin.

Der Grund dieser anhaltenden Wirksamkeit und ausbleibenden Resistenzentwicklung wird in dem direkten und doppelten Angriff auf die Zellmembran von Mikroorganismen vermutet. Um Resistenzen auszubilden, müssten Pathogene die Beschaffenheit und Zusammensetzung ihrer Zellmembranen ändern, ein komplizierter und (im Blick der Evolution) sehr aufwendiger Prozess.[7]

Aufgrund dieser gleichbleibend hohen Wirkung ist Tyrothricin mit seinen aktiven Bestandteilen Gramicidin und Tyrocidin zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder verstärkt in den Blick der Forschung gelangt.[7][5]

In verschiedenen Experimenten wurden dabei auch andere Eigenschaften von Tyrothricin entdeckt, bspw. die Aktivierung des angeborenen unspezifischen Immunsystems oder die Hemmung der Ausschüttung des Tumornekrosefaktors TNF.[9]

Tyrothricin wird ausschließlich lokal eingesetzt.[10] In diesem Zusammenhang wird das Antibiotikum in Form von Halstabletten bei Halsentzündungen und -schmerzen mit Schluckbeschwerden, bei Rachen- und Kehlkopfentzündungen sowie bei Entzündungen der Mundschleimhaut und des Zahnfleisches eingesetzt.[11] Das Peptid wird im Magen-Darm-Trakt zerstört, und es findet keine messbare Resorption bei lokaler Anwendung auf der Haut oder den Schleimhäuten statt.[12]

Darüber hinaus wird Tyrothricin zur lindernden Behandlung von kleinflächigen, oberflächlichen, wenig nässenden Wunden der Haut mit bakterieller Superinfektion mit Tyrothricin-empfindlichen Erregern, wie z. B. Riss-, Kratz-, Schürfwunden, eingesetzt.[13]

Bei lokalem Einsatz sind im Allgemeinen Überempfindlichkeitsreaktionen gegenüber dem Wirkstoff wie Brennen oder Jucken der Haut oder Schleimhaut beobachtet worden. Es liegen bislang keine Langzeitstudien über die Wirkung bei Schwangerschaft und Stillzeit vor.

Bei systemischer Aufnahme kann es zu starken nephro- und neurotoxischen Nebenwirkungen kommen.

Tyrosolvetten (Tyrosolvin-Pastillen) von Byk Gulden zur lokalen Behandlung bei Infektionen der Mundhöhle und des Rachens. Zusätzlich enthalten waren das antiseptisch wirkende Cetylpyridiniumchlorid und das Lokalanästhetikum Benzocain.

Tyrothricin wurde 1939 von dem Franzosen René Jules Dubos bei Brutversuchen mit Bodenproben und Pneumokokken entdeckt[14] und aus Kulturfiltraten von Bacillus brevis isoliert. Die ersten Markennamen waren Tyrosolvin (von Byk-Gulden, Konstanz) und Tyrocid (von Grünenthal).[15] Das unter anderem Tyrothricin als Tyrosolvin-Byk enthaltende Präparat Inspirol wurde von dem Wiesbadener Unternehmen Lyssia-Werke als bakteriostatisches Heilmittel bei allen Erkrankungen von Mund, Hals, Nase und Luftwegen[16] vertrieben.

Monopräparate

Tyrosur (D)[17]

Kombinationspräparate

zahlreiche Generika (A, CH)

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Datenblatt Tyrothricin from Bacillus aneurinolyticus (Bacillus brevis) bei Sigma-Aldrich, abgerufen am 29. Mai 2011 (PDF).
  2. H. Sous, H. Keller, H. E. Kleine-Natrop, W. Krupe, W. Rothe, H. Muckter: [Experimental basis of the use of a tyrothricin-xanthocillin combination in local therapy of bacterial infections]. In: Arzneimittel-Forschung. Band 7, Nummer 2, Februar 1957, S. 98–103, PMID 13412586.
  3. European Pharmacopoeia. Edition 8.0, 2015, S. 3502.
  4. Theodor Dingermann u. a.: Pharmazeutische Biologie – Molekulare Grundlagen und klinische Anwendung. Springer Verlag, Frankfurt/ München 2002, ISBN 3-540-42844-5.
  5. a b B. M. Spathelf: Qualitative structure-activity relationships of the major tyrocidines, cyclic decapeptides from Bacillus aneurinolyticus. Dissertation. University of Stellenbosch, 2010, (Kapitel 1.4).
  6. M. Kretschmar, W. Witte, H. Hof: Bactericidal activity of tyrothricin against methicillin-resistant Staphylococcus aureus with reduced susceptibility to mupirocin. In: European journal of clinical microbiology & infectious diseases : official publication of the European Society of Clinical Microbiology. Band 15, Nummer 3, März 1996, S. 261–263. PMID 8740868.
  7. a b c M. A. Marques, D. M. Citron, C. C. Wang: Development of Tyrocidine A analogues with improved antibacterial activity. In: Bioorganic & Medicinal Chemistry. Band 15, Nummer 21, November 2007, S. 6667–6677, doi:10.1016/j.bmc.2007.08.007. PMID 17728134. PMC 2706120 (freier Volltext).
  8. M. Stauss-Grabo, S. Atiye, T. Le, M. Kretschmar: Decade-long use of the antimicrobial peptide combination tyrothricin does not pose a major risk of acquired resistance with gram-positive bacteria and Candida spp. In: Pharmazie. 69(11), Nov 2014, S. 838–841. PMID 25985581.
  9. M. Flügel: Kationische Peptide – mehr als Antibiotika. In: Deutsche Apotheker Zeitung. Nr. 48, 2013, S. 26.
  10. Vgl. auch Tyrosolvin – das typische Lokal-Antibioticum (Tyrothricin). In: Münchener Medizinische Wochenschrift. Band 95, Nr. 1, 2. Januar 1953, S. LX.
  11. Beipackzettel Dorithricin Halstabletten (PDF; 1,8 MB).
  12. H. E. Voigt, G. Ehlers: Tyrothricin: Renaissance eines Lokalantibiotikums Teil I. In: Der Deutsche Dermatologe. Band 37, Nr. 6, 1989, S. 647–650.
  13. Beipackzettel Tyrosur Gel (Memento vom 13. August 2015 im Internet Archive) (PDF; 112 kB).
  14. Alfons Metzner: Weltproblem Gesundheit. Imhausen International Company mbh, Lahr (Schwarzwald) 1961, S. 237.
  15. Karl Wurm, A. M. Walter: Infektionskrankheiten. In: Ludwig Heilmeyer (Hrsg.): Lehrbuch der Inneren Medizin. Springer-Verlag, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955; 2. Auflage ebenda 1961, S. 9–223, hier: S. 54.
  16. Münchener Medizinische Wochenschrift. Band 95, Nr. 1, 2. Januar 1953, S. CXXIX.
  17. ROTE LISTE 2017, Verlag Rote Liste Service GmbH, Frankfurt am Main, ISBN 978-3-946057-10-9, S. 224.