Franz Neumann (Politikwissenschaftler) – Wikipedia

Franz Leopold Neumann (* 23. Mai 1900 in Kattowitz; † 2. September 1954 in Visp) war ein deutsch-amerikanischer Politologe und Jurist.

Neumann entstammte einer assimilierten jüdischen Familie aus Kattowitz. Als Student nahm er an der Novemberrevolution 1918/19 teil und trat der SPD bei. Nach seiner juristischen Promotion bei Max Ernst Mayer in Frankfurt am Main 1923 war er von 1925 bis 1927 als Lehrer an der gewerkschaftseigenen Akademie der Arbeit, danach als Assistent von Hugo Sinzheimer, dem Begründer des deutschen Arbeitsrechts, tätig. Von 1928 bis 1933 arbeitete er in Berlin in Sozietät mit Ernst Fraenkel als Rechtsanwalt mit dem Schwerpunkt Arbeitsrecht. Zu seinen Klienten zählte der Deutsche Baugewerksbund und der Deutsche Metallarbeiter-Verband, die er in Prozessen bis zum Reichsarbeitsgericht in Leipzig vertrat. Von 1928 an lehrte er an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin und arbeitete als Rechtsberater des Vorstands der SPD.

Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurde Neumann im April 1933 als Jude und Gegner des Nationalsozialismus bedroht und auch verhaftet. Noch im Mai 1933 emigrierte er nach England. Dort nahm er an der London School of Economics and Political Science bei Harold Laski und Karl Mannheim ein Studium der Politikwissenschaft und der Soziologie auf, das er 1936 mit einer zweiten Promotion abschloss. Er war einer der ersten, die die neue nationalsozialistische Reichsregierung ausbürgerte.

1936 siedelte er nach New York über. An dem aus Frankfurt dorthin vertriebenen Institut für Sozialforschung, das damals der Columbia University angegliedert war, arbeitete er an der Seite von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse. Während dieser Jahre entstand sein Hauptwerk Behemoth, eine Strukturanalyse des Nationalsozialismus und zugleich eine Pionierschrift des Power Structure Research.

Nicht zuletzt wegen finanzieller Probleme des Instituts wechselte Neumann 1942 nach Washington zum Office of Strategic Services (OSS), für das er einige Jahre als Deutschlandexperte tätig war, und danach als Leiter des wissenschaftlichen Zweigs der Deutschland-Abteilung ins State Department. Seine Arbeit im OSS bestand vor allem darin, die Tätigkeit der künftigen Militärregierung in Deutschland vorzubereiten. In Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Bundesrichter Robert H. Jackson und dem amerikanischen Hauptankläger Telford Taylor verfasste er mehrere Anklageschriften für die Nürnberger Prozesse. 1946 nahm er für die USA an ihnen teil. Ian Buruma urteilt, Neumann sei „der wichtigste Kopf hinter der Entnazifizierung“ in Deutschland gewesen.[1]

1948/50 wurde er als ordentlicher Professor für Politikwissenschaft an die New Yorker Columbia University berufen. Daneben wirkte er an der Gründung der Freien Universität Berlin und des dortigen Instituts für Politische Wissenschaft (IfPW, später Otto-Suhr-Institut) mit.[2] Zeitweise war er auch als Gastprofessor an der FU Berlin tätig; 1953 wurde ihm von deren Philosophischer Fakultät die Ehrendoktorwürde verliehen.

Neumann kam 1954 durch einen Autounfall in der Schweiz ums Leben.

Er war der Doktorvater des Holocausthistorikers Raul Hilberg.

Die Bibliothek von Franz Neumann wurde 1954/55 durch die Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin erworben.

Gemeinsam mit Ernst Fraenkel und Karl Loewenstein wird Neumann zu den Gründern der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland gezählt. Sein Renommee gründet sich nicht zuletzt auf seine Totalitarismustheorie, die er etwa gleichzeitig mit derjenigen Hannah Arendts, Ernst Fraenkels und Carl J. Friedrichs entwickelte.

Neumanns Leitkonzept des totalitären Monopolkapitalismus war hinsichtlich des allgemeinen Trends zur Bürokratisierung von Gesellschaft(en) den Einsichten der Frankfurter Schule verpflichtet. Zugleich erhob er auch eigenständige politiksoziologisch-empirische Studien: Beispielsweise versprach sich Neumann von einer systematischen Analyse der Nürnberger Nachfolgeprozesse einen wichtigen Beitrag „[to] contribute a great deal toward preventing in the future circumventions and violations similar to those which occurred after Versailles“.[3]

Die Rezeption seines Werkes profitierte seit den 1980er Jahren von dessen Zuordnung zur Kritischen Theorie und galt als deren wichtigste politik- und rechtstheoretische Umsetzung. Jürgen Habermas bezog sich in den späten 1950er Jahren auf Neumann. Der Aufsatz Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft avancierte während der Studentenbewegung zu einem Klassiker der materialistischen Rechtstheorie.[4] Ian Kershaw stellte ein Zitat von Franz Neumann an den Beginn seiner Hitler-Biographie.[5]

  • Jürgen Bast: Totalitärer Pluralismus. Zu Franz L. Neumanns Analysen der politischen und rechtlichen Struktur der NS-Herrschaft. Mohr Siebeck, Tübingen 1999, ISBN 3-16-147019-2 (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 22) (Zugleich: Frankfurt am Main, Univ., Diplomarbeit, 1996).
  • David Bebnowski: Grundlagen der Neuen Linken. Franz L. Neumann und amerikanisch deutsche Netzwerke in West-Berlin. In: Zauber der Theorie – Geschichte der Neuen Linken in Westdeutschland, Schwerpunktheft von Arbeit – Bewegung – Geschichte 2018, Heft 2, S. 23–38.
  • Sonja Buckel: Subjektivierung und Kohäsion. Zur Rekonstruktion einer materialistischen Theorie des Rechts. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2007, ISBN 978-3-938808-29-0, S. 80–94 (Zugleich: Frankfurt am Main, Univ., Diss., 2005) (zu Neumanns Rechtstheorie im Kontext marxistischer Rechtstheorie).
  • Andreas Fisahn: Eine Kritische Theorie des Rechts. Zur Diskussion der Staats- und Rechtstheorie von Franz L. Neumann. Shaker Verlag, Aachen 1993, ISBN 978-3-86111-461-1 (= Reihe Rechtswissenschaften) (Zugleich: Göttingen, Univ., Diss., 1992).
  • Peter Intelmann: Zur Biographie von Franz L. Neumann. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 5, 1990, ISSN 0930-9977, S. 14–52.
  • Raffael Laudani (Hrsg.): Secret Reports on Nazi Germany. The Frankfurt School Contribution to the War Effort. Mit weiteren Beiträgen von Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer, mit einem Vorwort von Raymond Geuss. Princeton University Press, Princeton, New Jersey, USA 2013, ISBN 978-0-691-13413-0.
    • deutsche Ausgabe: Im Kampf gegen Nazideutschland. Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943–1949, hrsg. v. Raffaele Laudani, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2016, ISBN 978-3-593-50345-5.
  • Ulrich K. Preuß: Franz L. Neumann (1900–1954). Demokratie als unvollendetes Projekt. In: Kritische Justiz (Hrsg.): Streitbare Juristen. Eine andere Tradition. Nomos, Baden-Baden 1988, ISBN 3-7890-1580-6, S. 390 ff.
  • Joachim Rückert: Franz Leopold Neumann (1900–1954). Ein Jurist mit Prinzipien. In: Marcus Lutter u. a. (Hrsg.): Der Einfluß deutscher Emigranten auf die Rechtsentwicklung den USA und in Deutschland. Mohr, Tübingen 1993, ISBN 3-16-146080-4, S. 437–474.
  • Joachim Rückert: Neumann, Franz Leopold. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 19, Duncker & Humblot, Berlin 1999, ISBN 3-428-00200-8, S. 145–147 (Digitalisat).
  • Samuel Salzborn (Hrsg.): Kritische Theorie des Staates. Staat und Recht bei Franz L. Neumann. Nomos Verlag, Baden-Baden 2009, ISBN 978-3-8329-4523-7 (= Staatsverständnisse, 25).
  • Felix Sassmannshausen: Doppelcharakter der Demokratie. Zur Aktualität der politischen Theorie Franz L. Neumanns in der Krise. In: Frank Jacob u. a. (Hrsg.): Reihe Alternative | Demokratien. Studien zur Geschichte der Sozialdemokratie und des Sozialismus. Band 4, Metropol Verlag, Berlin 2020, ISBN 978-3-86331-527-6.
  • Felix Sassmannshausen: Identitärer Terror. Franz L. Neumanns Kritik am völkischen Demokratiebegriff. In: Leo Roepert (Hrsg.): Kritische Theorie der extremen Rechten. Analysen im Anschluss an Adorno, Horkheimer und Co. Bielefeld 2023, ISBN 978-3-8376-6292-4, S. 273–294.
  • Gert Schäfer: Franz Neumann. In: Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Historiker. Bd. VIII. Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen 1982, ISBN 3-525-33467-2, S. 96–113.
  • William E. Scheuerman: Die Krise der liberalen Demokratie: Was ein in Vergessenheit geratener ›Frankfurter‹ uns lehren kann. In: Ulf Bohmann, Paul Sörensen (Hrsg.): Kritische Theorie der Politik. Suhrkamp, Berlin 2019, S. 84–109, ISBN 978-3-518-29863-3.
  • Alfons Söllner: Ein (un)deutsches Juristenleben – Franz Neumann zum 80. Geburtstag. In: Kritische Justiz 13, 1980, Nr. 4, S. 427–437.
  • Stefan Vogt: Gibt es einen kritischen Totalitarismusbegriff? Franz Neumann. In: Jour-Fixe-Initiative Berlin (Hrsg.): Theorie des Faschismus – Kritik der Gesellschaft. Unrast, Münster 2000, ISBN 3-89771-401-9 (Vogt beschäftigt sich hier mit dem Hauptwerk Behemoth und vergleicht den Begriff des Totalitären bei Neumann, Max Horkheimer und Hannah Arendt).
  • Sascha Ziemann: Relativismus in Zeiten der Krise: Franz L. Neumanns unveröffentlichte rechtsphilosophische Doktorarbeit von 1923. In: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 2007, Heft 9, ISSN 1863-6470, S. 362–370, online (PDF; 128 kB).

Einzelnachweise

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  1. Ian Buruma: ’45. Die Welt am Wendepunkt. München 2014, S. 207.
  2. David Bebnowski: Grundlagen der Neuen Linken. Franz L. Neumann und amerikanisch deutsche Netzwerke in West-Berlin. In: Zauber der Theorie – Geschichte der Neuen Linken in Westdeutschland, Schwerpunktheft von Arbeit – Bewegung – Geschichte, 2018, Heft 2, S. 23–38.
  3. The War Crimes Trials. In: World Politics, Bd. 1, 1946/49, Nr. 2, S. 135–137; namentlich erwähnt er als höchst interessant den German tobacco king Reemtsma.
  4. Franz L. Neumann. In: Gisela Riescher (Hrsg.): Politische Theorie der Gegenwart in Einzeldarstellungen. Von Adorno bis Young (= Kröners Taschenausgabe. Band 343). Kröner, Stuttgart 2004, ISBN 3-520-34301-0, S. 347.
  5. Stuttgart 1998, S. 13.